Die Pilgerin von Montserrat
wird schon nichts passieren, sagte sie sich, und wenn, dann wird mich der Geist dieses Jungen – oder was immer es auch sein mag – beschützen.
»Wir müssen aus der Stadt verschwinden«, sagte Froben mit besorgtem Gesicht. Hatte er etwa doch … »Bis Annecy sind es nur einige Stunden zu Pferd.« Er schaute zum Himmel. »Wenn wir gleich aufbrechen, sind wir bei Sonnenuntergang dort.«
»Warum gerade Annecy?«, wollte Teresa wissen. »Herrschen dort nicht auch die Reformatoren?«
»Nein. Die Stadt hat seit zehn Jahren allen verfolgten Katholiken Zuflucht geboten. Es wird das ›Rom von Savoyen‹ genannt. Es ist ein Ort der Gegenreformation.«
Gegenreformation? Warum konnten die Menschen sich nicht mit dem zufriedengeben, was sie hatten? Glaubten sie nicht an denselben Gott? War es so wichtig, ob das Abendmahl zelebriert wurde oder nicht, ob man Maria verehrte oder Christus, ihren Sohn? Ob er Gott selbst war oder sein Stellvertreter auf Erden?
Sie saßen auf und ritten zügig aus der Stadt hinaus. Die Gegend war hügelig und bewaldet. Der Weg schlängelte sich zunächst durch Weinberge, bewegte sich dann auf die hohen, schneebedeckten Berge Savoyens zu. In einem Wäldchen machten sie Rast, wechselten ihre Kleider. Teresa war jetzt mit schwarzer Kukulle, Skapulier und Kapuzenmantel bekleidet, auf welche jeweils die Jakobsmuschel genäht war. Froben hatte sich verschätzt. Die Sonne neigte sich schon zum Horizont, und sie hatten die Stadt Annecy noch lange nicht erreicht. Der Weg zog sich um einige Bergrücken herum, verlief über einen sehr steilen Pass. Die Pferde waren müde, mussten ausruhen, gefüttert und getränkt werden.
Teresa hatte seit dem Abritt aus Genf ständig das Gefühl, als wären sie nicht die Einzigen, die unterwegs waren. Aber außer Bauern auf den Feldern und Eselskarren mit Tagelöhnern begegnete ihnen niemand. Über den Bergspitzen, die langsam im Licht der untergehenden Sonne erglühten, kreisten Steinadler und Bartgeier. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Quartier in einem Bergdorf zu nehmen, in einer kleinen Gastwirtschaft, in der außer ihnen niemand übernachtete. Ein paar Steinhütten standen verstreut um eine Holzkirche. Sie hatten schon lange keine Andachten mehr besucht, abgesehen von den Gebeten, unterwegs in Kapellen oder Kathedralen. Hoffentlich hatte das keinen Verdacht auf sie geworfen. Aber war es überhaupt wichtig, Gott in einem Haus anzubeten?
Die Wirtsstube bestand aus einem niedrigen, dunklen Raum mit angrenzender Küche. Darüber, im einzigen Obergeschoss, befanden sich drei Gastzimmer, zu denen eine Holztreppe hinaufführte. Kaum in ihrem Zimmer angekommen, entledigte sich Teresa ihrer Kleider, goss Wasser in eine Schüssel und wusch sich allen Staub und allen Dreck dieser Reise vom Körper. Sie wusch und kämmte ihre Haare, trocknete sie lange mit einem Handtuch und zog frische Kleider an. Dann öffnete sie das Fenster und lehnte sich hinaus. Über den Gipfeln war der Mond aufgegangen, still und klar stand er in der blauen Nacht. Irgendwo in den Wäldern schrie eine Eule. Der Duft nach welkem Laub drang zu ihr herüber.
Ein banges Gefühl ergriff sie. Wohin wird diese Reise uns führen, eine Reise, die mit Tod und Verderben begann? War das nicht ein schlechtes Omen gewesen? Daraus kann nichts Gutes erwachsen. Dieser blonde Junge – warum verfolgte er sie? Wollte er sie warnen oder ins Verderben stürzen?
Sie lief die Treppen hinunter, es roch nach gebratenem Fleisch. Teresas Magen zog sich schmerzhaft zusammen, denn sie hatte den ganzen Tag noch nichts Richtiges zu sich genommen. Andere Pilger gaben sich mit viel weniger zufrieden als sie, aber sie waren ja auch keine richtigen Pilger. Markus und Froben saßen an einem der blankgescheuerten Tische, der Jüngere eine Karaffe mit schimmerndem Wein, der Ältere den üblichen Krug Wasser vor sich. Teresa setzte sich. Endlich wieder eine anständige Mahlzeit nach all den Tagen, an denen sie sich mit Brot und Käse begnügen mussten, weil es kaum Wirtschaften am Wege gab.
Die Gattin des Wirtes, der man die Liebe zum Kochen ansah, stellte eine Terrine mit Saiblingen auf den Tisch, gewürzt mit Zitrone, Thymian und Rosmarin. Teresa schnitt Scheiben von dem dunklen Brot herunter, angelte mit dem Messer Fischstückchen aus der Schüssel und verzehrte sie zusammen mit dem Brot. Auch die anderen langten herzhaft zu, selbst Froben. Unaufgefordert brachte die Wirtin auch für Teresa eine Karaffe mit Wein. Es sei der
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