Die Pilgerin von Montserrat
Schneetreiben. Dann ging es weiter über Bergrücken und vorbei an glasklaren Seen, in denen sich Kiefernwälder spiegelten, über Hochflure, die riesigen Gipfel des Berner Oberlandes vor Augen. Schluchten und Wasserfälle, alte Städtchen, von dicken Mauern umschlossen, und immer wieder eine Rast in Gasthöfen oder bei Bauern.
Am Abend des zehnten Tages erreichten sie den Lac Léman, eingeschlossen von Hängen mit Weinreben, die letzte bunte Blätter trugen. Das Wasser leuchtete mild in der tiefstehenden Sonne. Schließlich kamen sie nach Genf. Schon von Weitem sah Teresa den Altstadthügel an der Rhone. Sie ritten über eine Brücke, durch den Tour de l’Ile, ein schlankes, hohes Tor mit Glockenaufsatz und schmalem Durchlass. Die Straßen wurden gesäumt von Patrizierhäusern mit gotischen Fassaden. Auf dem Platz vor der Kirche wurde ein Markt abgehalten; wie überall auf der Welt waren Hausfrauen mit Körben unterwegs, feingekleidete Damen und Herren in Kutschen, und in den Gassen spielten lumpige Kinder, streckten ihnen Bettler ihre mageren Hände entgegen, schauten alte schwarzbehaubte Frauen aus den Fenstern. Aber etwas war anders an diesen Menschen. Sie wirkten gedrückt, schauten zu Boden, huschten vorüber, sprachen nicht miteinander. Es lag so etwas wie ein Schatten über allem.
Die Stadt wurde von der Cathédrale de St.-Pierre überragt, einem romanischen Bau mit zwei quadratischen Türmen. Sie betraten den Kirchenraum. Teresa fühlte sich befremdet. Kein Weihrauchgeruch, kein Duft nach Heiligenbildern und Marienfiguren? Etwa dreihundert Säulen mit feinen Kapitellen gliederten das dreischiffige Gotteshaus.
»Warum ist die Kirche so leer?«, fragte Teresa leise.
»Im Jahr 1536 kam Johannes Calvin nach Genf, in die Stadt, in der er geboren wurde«, gab Froben zurück. »Er hatte sich mit Luthers Schriften befasst und war ein glühender Anhänger der Reformation geworden. Alles, was sich in dieser Kirche an Schätzen befand, fiel dem Bildersturm zum Opfer.«
»Im Kloster Agenbach hat sich der Katholizismus bewahrt«, sagte Markus.
»Ich finde, man hätte die Reliquien, Hostien und Bilder in den Kirchen lassen können. Wenn ich auch selbst den reformerischen Ansätzen zuneige«, antwortete Froben.
Luther hatte mit seiner Reformation das Zölibat aufgehoben. ObMarkus auch deshalb der reformierten Kirche nahestand? Aber wahrscheinlich war er ein Freigeist, so wie ihr Vater und sie sich auch stets als Freigeister bezeichnet hatten. Nur die Mutter war bis zu ihrem Tod eine strenge Katholikin geblieben, und auch die Schwester Barbara, aber das hatte den Familienbeziehungen keinen Abbruch getan.
»Die Bevölkerung der Stadt ist seither gespalten«, fuhr Froben fort, während sie den Gang im Mittelschiff hinunterschritten. »Die einen hielten es mit der Reformation, die anderen waren dagegen. Der Reformator Guillaume Farel, ein Mann des Wortes, setzte mit seinen glühenden Reden die Reformation in Genf durch. Als Calvin auf der Durchreise in diese Stadt kam, richtete Farel im Befehlston die Worte an ihn: ›Ich kündige dir im Namen des allmächtigen Gottes, dass du mit mir das Werk treibest, zu dem ich berufen bin!‹ Calvin nahm das als einen Ruf Gottes an und gewann sehr bald einen beherrschenden Einfluss in der Stadt. Sie wollten das Abendmahl und andere Zeremonien abschaffen. Durch ihre unbeugsame Haltung riefen sie den Widerstand der Bürgerschaft hervor, so dass sie an Ostern 1538 aus Genf verschwinden mussten. Farel ging nach Neuenburg, Neuchâtel, Calvin kam nach Straßburg.«
»Und wie sieht es zur Zeit hier aus?«, wollte Teresa wissen.
»Anno 1540, also vor sechs Jahren, herrschte hier ein solches Durcheinander, dass Calvin zurückgerufen wurde. Der Reformator errichtete ein Regime grausam strenger Kirchenzucht. Er zwang das Volk zu einer Frömmigkeit, die an alttestamentarische, weltflüchtige Lebensweise erinnert.«
Teresa überlief ein Frösteln. Das war also die neue Religion, die in die Länder gekommen war? Sie hatten den Altar erreicht, einen schmucklosen Steintisch mit einer bestickten Decke und einer Opferkerze darauf.
»Calvins christlicher Staat sollte nun unter Anwendung von Gewalt verwirklicht werden«, fuhr Froben fort, »wobei sogar die Folter in schärfster Form angewandt wurde und wird. In den Jahrenvon 1542 bis heute sollen 58 Personen allein in Genf hingerichtet, 76 verbannt und 34 Frauen als Zauberinnen gevierteilt und verbrannt worden sein. Wer an einem Abendmahlssonntag
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