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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Thomas zu kümmern. Sie selbst drehte sich zu Tilla um. »Ich will noch einmal hinausgehen, um die Nacht zu begrüßen. Es würde mich freuen, wenn du mich begleiten könntest.«
    Sie gab auch Rudolf, der ihre Worte übersetzt hatte, einen Wink, mit ihnen zu kommen, trat vor die Tür und lenkte ihreSchritte hinüber zu der kleinen Kirche. Tilla wunderte sich darüber, denn die Aufforderung ihrer Gastgeberin hatte nicht nach einem gemeinsamen Gebet geklungen. Sie war in den letzten Tagen schon mehrmals in dem Gotteshaus gewesen, um vor dem schlichten Altar, der nur ein einfaches Kreuz aus Holz trug, Gott und den Heiligen für ihre Rettung zu danken. Aber sie hatte die Kirche nur bei Sonnenschein besucht. Als sie das Bauwerk nun im nachlassenden Schein der Dämmerung betrat, wirkte der Innenraum ganz anders. Das mochte an den Öllämpchen liegen, die neben dem Altar an dünnen Ketten von der Decke hingen und ein sanftes, goldenes Licht verströmten, und auch an dem leichten Windzug, der sich oben im Dachgebälk verfing und fremdartige Melodien erzeugte.
    Mit einem Mal wusste Tilla nicht mehr, ob sie weitergehen sollte. Da spürte sie die Hand ihrer Gastgeberin auf ihrer Schulter und einen leichten Schubs noch vorne. Beinahe widerwillig setzte sie einen Fuß vor den anderen und der Trittschall verriet ihr, dass Rudolf ihr und Olivia folgte.
    Nun erkannte Tilla, was hier anders war als sonst. Eine Steinplatte, die bei Tag so ausgesehen hatte, als würde sie das Grab eines vor langer Zeit verstorbenen Ritters bedecken, stand nun hochkant an der Wand und gab den Blick auf eine nach unten führende Treppe frei.
    »Nun wirst du das Geheimnis dieses Tales kennen lernen«, übersetzte Rudolf Olivias Worte.
    Tilla drehte sich um und sah Olivia irritiert an. »Welches Geheimnis?«
    »Sieh selbst!« Ihre Gastgeberin führte sie die Treppe hinab. Unten fand Tilla sich in einem düsteren Raum wieder, der dem Echo ihrer Schritte zufolge kaum kleiner sein konnte als das darüber liegende Kirchenschiff. Ein einziges Öllämpchenbrannte an der Wand, vermochte aber nur wenig mehr als die direkte Umgebung zu erhellen. Olivia nahm es an sich und entzündete mit seiner Flamme ein größeres Licht. Jetzt wich die Dunkelheit und der Raum nahm Gestalt an.
    Direkt vor Tilla ragte eine schwarze Säule auf, so dick, dass selbst ein Mann sie nicht mehr mit beiden Händen umfassen konnte. Sie war so hoch, wie Tilla gerade noch greifen konnte, und endete in einem stilisierten Pinienzapfen.
    Olivia berührte die Säule mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand, führte diese zur Brust und lehnte kurz ihre Stirn gegen den kühlen Stein. Dann ergriff sie Tillas Hand und zwang sie, dieselben Bewegungen auszuführen. Ihr Gesicht wirkte angespannt, ja beinahe ängstlich. Tilla spürte, wie ihr Körper bei der Berührung der Säule bis in die Haarspitzen vibrierte. Es war, als wirke eine unbekannte, mächtige Kraft aus der Ferne auf sie ein. Ihre Begleiterin schien die Reaktion ihres Leibes ebenfalls zu spüren, denn sie nickte zufrieden, nahm sie wie ein Kind an die Hand und führte sie weiter. Dort, wo oben der Altar stand, gab es hier eine Art Thron, auf der die etwa halb mannsgroße Figur einer Frau saß, welche ein Kind auf ihrem Schoß trug.
    Auf den ersten Blick wirkte das Bildwerk wie eine Statue der Muttergottes mit dem Jesuskind, dann aber bemerkte Tilla die Unterschiede zu den ihr bekannten Madonnen. Das Gesicht war schwarz wie die Nacht, ein grüner Mantel umfing ihre Gestalt und auf dem Kopf trug sie ein einfaches Tuch, das sich eng an ihre Wangen schmiegte. Das Antlitz der Statue wirkte streng und ihre linke Hand, die sie wie zum Segen erhoben hatte, war mindestens doppelt so groß wie ihre Rechte, die das Kind umfing. Das Jesuskind war ähnlich gekleidet wie die Mutter und hielt in der linken Hand einkleines Kästchen, während die ausgestreckte Rechte auf die Säule zeigte.
    »Dies ist die heilige Frau der Nacht«, übersetzte Rudolf Olivias tonlose Worte. »Seit Jahrhunderten betet unser Volk zu ihr, denn sie beschützt uns vor den Geistern und Dämonen der anderen Welt und schenkt uns und unserem Land Fruchtbarkeit.«
    »Die heilige Muttergottes!« Tilla sank auf die Knie und faltete die Hände zum Gebet.
    Olivia legte ihr die Hand auf den Kopf. »Sie trug bereits viele Namen, nun nennen wir sie bei diesem. Unser Volk hat bereits lange Zeit zu ihr gebetet, bevor der neue Glaube in unsere Lande getragen wurde. Doch wie sie auch immer

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