Die Pilgerin
genannt wurde – ihr Segen war stets mit uns. Seit jener Zeit hat es auch stets eine weise Frau mit dem Wissen über die Natur und die Heilkunst gegeben, das uns seit den Anfängen der Schöpfung überliefert worden ist.« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, presste jedoch die Lippen aufeinander.
Tilla wartete, bis Rudolf ihre Worte in seiner Muttersprache wiederholt hatte, und blickte dann zu ihr auf. »Du bist die eigentliche Priesterin, nicht der Mann, der dazu berufen ist.«
»Für die Welt ist er es. Es war nicht immer leicht für uns, mit den Priestern auszukommen, die der Bischof in unser Dorf geschickt hat. Zum Glück ist unser Tal sehr abgelegen und da wir als arm gelten, lehnen Männer mit Ehrgeiz es ab, zu uns zu kommen. Aus diesem Grund schicken wir, so oft es notwendig scheint, einen unserer jungen Männer in das nächste Kloster, damit er dort die christlichen Weihen empfangen kann, und leben unser Leben weiter, wie wir es seit vielen Generationen tun.«
»Dann seid ihr Ketzer!«, rief Tilla entsetzt aus. »So etwas wie diese Albigenser!«
Olivia schüttelte den Kopf. »Unsere Leute gehörten nicht zu den Katharern, auch wenn es Begegnungen mit ihnen gab. Die, die du meinst, hassten den Leib und glaubten, nur sie allein würden die Seligkeit erlangen. Wir aber haben immer gewusst, dass wir ein Teil der Natur sind und mit ihr leben müssen. Früher einmal gab es viele Gemeinden wie die unsere im Land. Der Kampf der Franzosen gegen jene, die du Albigenser nennst, hat jedoch auch unsere Leute betroffen. Viele wurden getötet, andere versklavt, und diejenigen, die überlebten, wurden von den Prälaten Roms gezwungen, sich ihnen zu unterwerfen, obwohl wir weder die Autorität der Kirche noch die ihrer Bischöfe angegriffen haben, so wie es die Albigenser taten. Jetzt gibt es nur noch wenige, weit verstreute Gruppen, und es ist uns kaum noch möglich, unser Wissen auszutauschen. Wir müssen unsere heiligen Gebetsräume vor fremden Augen verbergen und können unsere Riten nur im Geheimen vollziehen. Du bist die Erste, die nicht zu uns gehört und diesen Raum dennoch sehen darf.« Olivia schwieg und sah Tilla besorgt, aber auch hoffnungsvoll an.
»Das hättest du nicht tun sollen, denn du hast selbst gesagt, dass die heilige Kirche nicht mit dem einverstanden ist, was ihr tut.« Tilla schnaubte abwehrend, denn es prasselte ein wenig zu viel auf sie ein.
»Wir beten die Gebete, die man von uns fordert, und halten die Riten der heiligen katholischen Kirche ein«, antwortete Olivia scharf, lächelte aber entschuldigend. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erzürnen. Diese Madonna ist für uns heilig und wir wollen ihre Gnade nicht verlieren. Jetzt aber sieht es so aus, als wolle sie ihre Hand von uns abziehen. Ich bin die letzte weise Frau und es gibt kein Mädchen mehr im Tal, welches meine Stelle einnehmen kann. Du besitzt die Kraft, dienötig wäre, um mein Erbe anzutreten, doch bist du wie ein kleiner Vogel, den ich in meiner Hand halte. Du strebst weiter, einem Ziel entgegen, das dir teuer ist. Möge die Große Mutter dich beschützen und leiten. Ich bitte dich auch nicht, hierher zurückzukommen, denn ich spüre, dass dich noch andere Dinge bewegen und bald weitertreiben würden. Doch solltest du einmal eine Tochter bekommen, die dir gleicht, so bitte ich dich, ihr von unserem Tal zu berichten und ihr die Wahl zu lassen, ob sie in ihrer Heimat bleiben oder hier eine neue finden will.«
Tilla wischte sich mit einer verlegenen Geste über die Stirn. »Dein Blick richtet sich ein wenig zu sehr in die Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch einmal heiraten will, geschweige denn, ob ich je Kinder haben werde.«
»Du wirst einen der drei Männer heiraten, die um dich sind. Möglicherweise den Großen mit den geschickten Fingern, der sich jetzt schämt, weil er sich als Feigling erwiesen hat. Er verehrt dich jedoch, als wärst du die Hohe Frau selbst, vor der wir stehen. Vielleicht auch den jungen Edelmann, der sich Starrheim nennt. Er hat mir berichtet, dass du ihm mehrfach das Leben gerettet hast, einmal an der Rhône, als ein Krieger ihn von hinten niederstoßen wollte, und letztens, als du dafür gesorgt hast, dass seine Wunden verbunden und er mitgenommen wurde. Die anderen hätten ihn mit Sicherheit liegen gelassen, weil sie dachten, er würde sterben. Der Dritte ist der Freund deiner Kindertage. Noch ist er wie junger Wein, der gärt und noch nicht weiß, wie er einmal werden wird.
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