Die Pilgerin
»Jenseits der Grenze Navarras herrscht Krieg. Heinrich von Trastamara hat sich wieder gegen seinen Halbbruder, König Peter von Kastilien, empört und sucht die Krone zu erlangen.«
Vater Thomas blickte ihn erstaunt an. »König Peter hat doch seinen Bruder im letzten Jahr bei Najera mit Unterstützung des Prinzen Eduard von England geschlagen! Wie vermag Heinrich ihm jetzt schon wieder den Kampf anzutragen?«
»Mit Frankreichs Hilfe, auch wenn diese nicht ganz uneigennützig gegeben wird. Viele der Söldner, die von Englands und Frankreichs Königen aus ihren Diensten entlassen wurden, sind marodierend durch weite Teile des Landes gezogen. Die meisten von ihnen hat König Karls Feldherr Bertrand du Guesclin nun an sich gebunden und will, wie es heißt, erneut in Kastilien eingreifen. Englands Hilfe für Peter von Kastilien dürfte diesmal wohl erheblich geringer ausfallen, denn Prinz Eduard istihm wegen der nicht eingehaltenen Versprechen vom letzten Jahr gram. Damals haben die Engländer Peters Thron gerettet, wurden aber nicht so belohnt, wie dieser es ihnen zugesagt hatte, und haben überdies viele ihrer Männer durch eine Seuche verloren. Damit steht Peter von Kastilien nun allein einer Koalition von Feinden gegenüber.«
Der Kölner war gut informiert, denn er hatte auf dem Herweg mit den Mönchen vieler Klöster gesprochen. Vater Thomas und seine Anvertrauten schüttelten sich bei seinem Bericht. Wo Krieg herrschte, konnten friedliche Menschen nicht reisen, und sie hatten die Auswirkungen der Kriegsfurie schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Da sie bereits einen großen Teil ihres Pilgerwegs zurückgelegt hatten, schauderten sie außerdem bei dem Gedanken, unverrichteter Dinge zurück in die Heimat wandern zu müssen.
Vater Thomas sah die anderen an und stellte die Frage, die alle bewegte: »Sollen wir umkehren?«
Tilla schüttelte vehement den Kopf. Sie hatte die Pflicht, nach Santiago zu pilgern, und würde notfalls alleine weitergehen. Auch Starrheim dachte nicht daran, aufzugeben, denn er hatte sich mit seinem Ritterwort verpflichtet, das Grab des Apostels aufzusuchen, und diesen Eid durfte er nicht brechen. Blanche schloss sich sofort Starrheims Meinung an, während sich die anderen zunächst unschlüssig zeigten, doch dann überwog auch bei ihnen der Wunsch, weiterzuziehen.
Am nächsten Morgen versammelte Vater Thomas seine Schäfchen noch vor dem Morgengrauen in der Stiftskirche des Klosters. Bis auf eine einzeln brennende Kerze war es darin noch dunkel, und dennoch befanden sich bereits Pilger und Mönche in dem Gemäuer und ihre Stimmen füllten es mit vielen Sprachen.
Nach dem harten Marsch vom Vortag war Tilla so müde, dass sie kaum die Augen aufhalten konnte, und sie vermochte sich nur mit Mühe auf die Gebete zu konzentrieren. In der Hoffnung, aus ihrer Aufgabe Kraft schöpfen zu können, umklammerte sie ihre Tasche und strich über das kühle Metall, welches das Herz ihres Vaters umschlossen hielt. Der Gedanke an seine Erlösung aus Hölle oder Fegefeuer verlieh ihr neuen Mut, ließ aber auch die Frage in ihr aufsteigen, ob er ihr wirklich all diese Mühen und Plagen zugemutet hätte, einschließlich jener Stunde in Saltilieus Burg, in der sie Aymer zu Willen hatte sein müssen.
Da sie diese Frage nicht beantworten konnte, beschloss sie, sich nicht länger mit dem zu beschäftigen, was geschehen war, sondern in die Zukunft zu schauen. Noch während sie ihren Sinn auf ihr immer noch fernes Ziel Santiago richtete, brach plötzlich gleißendes Licht durch die Fenster der Kirche, bohrte sich wie eine Flammensäule durch das Kirchenschiff und erreichte den Hochaltar. Eine Madonnenstatue, die bisher im Dunkeln verborgen gewesen war, erstrahlte nun in silbernem Glanz.
Tilla vermochte ihren Blick nicht von der Muttergottes zu lösen, so wunderschön erschien sie ihr. Neben ihr seufzte Hedwig ergriffen, und selbst Vater Thomas, der diesen Anblick schon erlebt hatte, schlug in Demut das Kreuz. »Heilige Maria, Muttergottes, beschütze uns auf unserem weiteren Weg und sei uns gnädig!«
»Amen!« Tilla wusste nicht, warum sie es sagte, denn das wäre das Vorrecht ihres Pilgerführers gewesen. Aber weder Vater Thomas noch einer ihrer Gefährten tadelte sie, denn der Anblick der silbernen Jungfrau von Roncevalles hielt sie alle gefangen. Sie verharrten in dem gleißenden Widerschein, bis dieStrahlen der Sonne weitergewandert waren, und stellten dann leicht erschrocken fest, dass es längst Zeit
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