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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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oft er diesen Weg freudig zurückgelegt hatte. Bei jedem Mal war ihm die Gnade verliehen worden, elf Begleiter um sich geschart zu haben, aber diesmal waren es nur zehn. Hatte er auf früheren Reisen den einen oder anderen Pilger unterwegs begraben müssen, so war eine Krankheit oder ein Unglück daran schuld gewesen. Nie aber hatte er gleich drei seiner Gefährten verloren, und keiner von den Gestorbenen war auf eine solch üble Art und Weise ums Leben gekommen wie Bruder Carolus und der gutmütige, liebenswerte Tölpel Manfred. Auch war noch nie ein Weib in seiner Begleitung einem Notzuchtverbrechen zum Opfer gefallen.
    »Gleich haben wir die Passhöhe erreicht!« Sebastians fröhlicher Ruf riss den Pilgerführer aus seinen trüben Gedanken.
    Ächzend schloss er zu dem Jüngeren auf und sah es dann selbst. Tatsächlich hatten sie den ersten der hohen Pässe Spaniens beinahe überwunden. Als Vater Thomas sich umwandte, um den anderen die frohe Botschaft mitzuteilen, entdeckte er den einsamen Wanderer, der hinter ihnen herhastete und aufzuschließen versuchte. Er kniff die Augen zusammen, um den Mann besser sehen zu können, und fühlte, wie sein Herz freudiger schlug. Selbst auf die Entfernung war er sich sicher, dass es Sepp war, den der Bischof von Eichstätt wegen der rauen Behandlung seinerFrau zu dieser Pilgerschaft verurteilt hatte. Als der Mann in Frankreich die Pilgergruppe verlassen und sich Felicia de Lacaune angeschlossen hatte, war der Pilgerführer in großer Sorge um dessen Seelenheil gewesen. Nun aber sah es so aus, als sei Sepp anderen Sinnes geworden und würde sich nach seiner alten Pilgergruppe sehnen.
    Vater Thomas schlug das Kreuz und wandte seinen Blick nach Westen. »Ich danke dir, heiliger Jakobus, denn du wirst mich und meine Begleiter auch diesmal wieder in der ehrwürdigen Zahl der Apostel unseres Herrn Jesus in Roncevalles einziehen lassen.« Dann wies er auf einen Flecken Gras, der von einem einzeln stehenden Felsen vor dem scharfen Wind geschützt wurde, der aus Süden heraufwehte. »Dort machen wir Rast!«
    Die anderen nickten erleichtert und ließen sich erschöpft auf das Grün fallen. Sebastian sah, wie Hedwig ihn mit bitterbösen Blicken bedachte, und entschuldigte sich dafür, dass er ihr und den anderen auf dem letzten Teil der Strecke nicht geholfen hatte. Er blickte dabei jedoch mehr Tilla an als die ältere Frau, um zu sehen, wie sie reagierte. Seine Sehnsucht nach ihr war seit dem Aufbruch in Orthez noch gestiegen, aber gleichzeitig fühlte er sich in ihrer Gegenwart so hilflos wie ein kleiner Junge. Im Augenblick wünschte er sich nicht einmal, sie an sich zu ziehen oder mit ihr hinter die Büsche zu schlüpfen, sondern hätte gern gewusst, was sie dachte und fühlte oder sich vom Leben erhoffte. Wahrscheinlich stellte sie sich eine Ehe mit Damian vor, denn der würde einmal der Herr des Handelshauses und Ratsherr werden, während er als jüngerer Sohn sein Lebtag der Knecht seines Bruders bleiben oder sich mit seinem Erbteil ein kleines Auskommen suchen musste. Würde er sich Tilla unter diesen Umständen nähern, hätte er kaum etwas anderes zu erwartenals harsche Worte. Es war verdammt ungerecht, ein zweiter Sohn zu sein, fuhr es ihm durch den Kopf, vor allem, weil dieser Stiesel von Damian eine Frau von Tillas Format gar nicht verdiente.
    »Du kannst ja das nächste Mal den Mund aufmachen, wenn ich dir helfen soll«, sagte er zu Hedwig, die mit seiner Entschuldigung nicht zufrieden zu sein schien, und öffnete seinen Beutel mit den Vorräten. Dieser enthielt eine Hand voll Oliven, ein Stück ausgetrockneten Käses und Brot, das so hart geworden war, dass er es kaum noch beißen konnte. Während er sich mit seinem Essen abmühte, sah er, wie Tilla ihr Brot mit etwas Wasser aus ihrer Kürbisflasche anfeuchtete und es daraufhin problemlos verzehren konnte.
    Sie erwies sich in fast allem, was diese Pilgerfahrt betraf, geschickter als er, und das ärgerte ihn. Aus Trotz nahm er sich kein Beispiel an ihr, wie es die anderen taten, sondern kaute auf seinem Kanten herum, dass es nur so krachte. Bevor er seinen Frust jedoch in Worte fassen konnte, hörte er eilige Schritte und blickte auf.
    Nun entdeckte auch er den vermissten Reisegefährten und starrte ihn mit offenem Mund an. »Sepp? Ja, wo kommst du denn her?«
    Sepp reagierte nicht auf seine Frage, sondern sank vor Vater Thomas in die Knie. Tränen rannen ihm über die Wangen, als er dessen Hände ergriff und ihn flehend

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