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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sehen konnte, und brach in Tränen aus.
    Die junge Frau, die Otfried als halbes Kind angetraut worden war, schluckte, als sie die roten Male sah, und ihre Erinnerung spielte ihr die beobachtete Szene als Vergewaltigung vor. Mit einer Geliebten wäre Otfried gewiss sanfter umgegangen. Gegen ihren Willen fühlte sie Mitleid mit der jungen Magd, die nichts dafür konnte, dass ihre Schönheit Otfried gereizt hatte.
    »Es ist schon gut!« Mit dieser knappen Bemerkung drehte sie sich um und ging. Daher nahm sie Ilgas triumphierenden Blick und deren wegwerfende Geste nicht wahr.
    Die Magd atmete erst einmal auf. Es schien, als sei Otfrieds Gier nach ihr ungebrochen. Also stand nur dieses kindhafte Hindernis zwischen ihnen. Gäbe es diese Frau nicht mehr, würde er sie zum angetrauten Weib nehmen. Sie erinnerte sich an den Trank, den sie Radegund an deren Hochzeitstag gereicht und den Veit Gürtler getrunken hatte. Die Tinktur, die sie in den Wein getan hatte, musste der Grund für Gürtlers plötzliches Ende gewesen sein. Sie war damals tagelang von der Angst gepeinigt worden, der Stadtarzt könnte entdecken, dass der Handelsherr nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern durch Gift hinweggerafft worden war. Doch weder Gassner noch irgendjemand sonst hatte Verdacht geschöpft. Ilgas Blick wurde dunkel, als sie an die Reste dieses Giftes dachte, die sie in einem Versteck aufbewahrte. Wenn es einen starken Mann wie Gürtler gefällt hatte, würde auch Radegund ihm nicht widerstehen können.
    Mit diesem Gedanken richtete sie ihre Kleidung, schlich nach oben in ihre Kammer und schob ein loses Brett zur Seite. Kurz darauf trat sie mit einem vollen Becher stark gewürzten Weines in Radegunds Nähstube und knickste vor der jungen Frau.
    »Ich bitte dich noch einmal um Verzeihung, Herrin, und bringe dir einen stärkenden Trunk. Wenn dein Gemahl bei dir heuteAbend ebenso hitzig vorgeht wie bei mir, wirst du ihn brauchen.«
    »Danke!« Radegund hatte geweint und nahm mit ihren durch die Tränen getrübten Augen die Magd nur wie einen Schatten wahr. Da sie durstig war, streckte sie die Hand aus und nahm den Becher.
    »Du bist doch ein gutes Ding, Ilga!«, sagte sie und trank.

SIEBTER TEIL

Kampf um Kastilien

I.
    Tilla blieb keuchend stehen und blickte sich um. Hedwig und die Zwillingsschwestern waren bereits ein ganzes Stück hinter ihr zurückgeblieben, ebenso Peter und Dieter, die das schwere Pilgerkreuz an diesem Tag gemeinsam trugen, da einer allein es nicht hätte bewältigen können. Starrheim, der selbst kaum laufen konnte, half Blanche, die sichtbar erschöpft an seinem Arm hing. Kein Wunder, dachte Tilla leicht boshaft, denn das Mündel des Grafen von Béarn hatte nicht den weiten Weg von Ulm her in den Beinen. Die Wanderung mochte beschwerlich gewesen sein, doch sie hatte ihnen allen Ausdauer verliehen und auch eine ganz neue Art der Bescheidenheit. Selbst Starrheim, der an eine gute Tafel und volle Becher Wein gewöhnt war, wusste nun die Gnade eines ersten Schlucks klaren, kühlen Wassers an einem heißen Tag zu schätzen.
    Tilla überlegte, welcher Monat es sein mochte, doch in ihren Gedanken verschwamm die Zeit und sie vermochte sich kaum noch daran zu erinnern, wann sie aufgebrochen war. Irgendwie schien es auch unwichtig zu sein. Das Einzige, was zählte, war, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um diesen Pass zu bewältigen. Ihr Blick glitt nach vorne zu Sebastian, der der Gruppe weit vorausgeeilt war, und sie schimpfte im Stillen mit ihm, während sie ihren trockenen Mund mit etwas Speichel anzufeuchten versuchte, denn er hätte lieber der erschöpften Renata helfen sollen.
    Auch Ambros kümmerte sich seit jenem Zwischenfall mit den rebellierenden Söldnern nicht mehr um seine Mitpilger. Er schien es nicht verwinden zu können, dass ausgerechnet er, der größte und stärkste Mann der Gruppe, geflohen war, während andere todesmutig den Kampf mit den Marodeuren aufgenommenhatten. Tilla hätte ihn gerne getröstet und auch ein wenig zur Vernunft gebracht, doch er hörte ihr nicht einmal zu.
    Vater Thomas wäre vielleicht in der Lage gewesen, den Geist des Goldschmieds wieder in die richtigen Bahnen zu lenken, aber der Priester bedurfte selbst der Hilfe, denn die blutigen Ereignisse hatten ihm viel von seiner einstigen Ruhe und Überlegenheit geraubt und er rang ständig mit sich, ob der Segen des Heiligen noch auf ihm ruhte. Während er mit unruhig pochendem Herzen zum Pass hochstieg, dachte er daran, wie

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