Die Pilgerin
daher um einiges verbindlicher.
»Jungfer Tilla ist die ganze Nacht nicht zu Bett gegangen, sondern hat Totenwache gehalten. Außerdem war die Leichenfrau da. Sie hat den Herrn gewaschen und teilweise angekleidet. Die Brust hat sie allerdings noch frei gelassen, denn der ehrwürdige Vater Eusebius will heute einen Chirurgen zu uns bringen, der das Herz herausnimmt, damit Ihr es nach Spanien tragen könnt.« Die Sorge, die bei diesen Worten Ilgas Gesicht zeichnete, schmeichelte dem jungen Mann. Auch wenn sie nur eine Magd war, die gelegentlich sein Bett wärmen durfte, so gefiel es ihm doch, von ihr geliebt und umsorgt zu werden. Allerdings würde sie niemals seine Ehefrau werden können, auch wenn sie noch so sehr danach strebte.
Er ergriff ihre Hand und tätschelte sie, ließ sie aber sofort wieder los, als draußen auf dem Flur Schritte erklangen. »Spanien hat noch Zeit. Erst einmal muss ich all das ordnen, was durch die Krankheit meines Vaters liegen geblieben ist. Wahrscheinlich werde ich sogar einen Stellvertreter nach Santiago schicken müssen, der das Herz hinbringt und es dort mit allen notwendigen Zeremonien begraben lässt.«
»Das wird das Beste sein, mein Herr.« Ilgas Augen leuchteten wieder auf, und als Otfried ihr zuraunte, dass sie am späten Nachmittag in das Kontor kommen sollte, da es dort Arbeit für sie gäbe, lächelte sie neckisch. Um den Schein zu wahren, würde sie ein wenig den Boden wischen müssen, doch ihre Hauptaufgabe war es, dem jungen Herrn zu dienen.
Otfried nickte ihr noch einmal zu und begann zu frühstücken. Er wunderte sich selbst, wie gut es ihm schmeckte. Hatte er gestern noch gedacht, jede Regung seines Gesichts und jede Geste würden seine Mitschuld am Tod des Vaters verraten, so lachte er jetzt über diesen Gedanken. Genau genommen hatte sein Freund Gürtler ihm einen großen Gefallen getan, denn das neue Testament hätte ihn nicht nur um viel Geld gebracht. Einmal auf Papier festgehalten, hätte er sich gegen die Verfügung seines Vaters, in eigener Person nach Spanien zu pilgern, nicht wehren können. Aber diese Gefahr war nun gebannt. Das jetzige Testament stammte noch aus einer Zeit, in der sein Vater gesund und munter gewesen war und an alles andere gedacht hatte, als an einem Fieber zu sterben.
Über seiner Erleichterung, einer Menge Probleme entgangen zu sein, erinnerte Otfried sich an Gürtlers Aufforderung, noch an diesem Vormittag zu ihm zu kommen, um mehr über dessen Pläne zu erfahren. Da ihn dies brennend interessierte, entschloss er sich, sofort aufzubrechen. Er beendete sein Frühstück undstieg kurz zur Schlafkammer seines Vaters hoch. Von der Leichenfrau mit großem Geschick hergerichtet, lag der Tote wie ein Heiliger auf seinem Bett und zwischen seinen gefalteten Händen hielt er einen Rosenkranz und ein silbernes Kreuz.
Tilla kniete mit feuchten Augen in einer Ecke und murmelte Gebete, die wohl nur noch sie selbst verstehen konnte. In Otfrieds Augen wirkte sie beinahe selbst schon wie eine Leiche. Das mochte an der durchwachten Nacht und der seelischen Erschütterung liegen, die für das schwächliche Wesen einer Frau zu viel gewesen waren.
»Du solltest dich hinlegen!«, riet er ihr.
Tilla blickte müde und verweint zu ihm auf. »Übernimmst du jetzt die Totenwache?«
Otfried nickte, obwohl er alles andere im Sinn hatte. »Ich muss nur noch kurz weg, komme aber gleich wieder.«
»Dann warte ich so lange«, antwortete sie und fuhr mit dem nächsten Gebet fort.
Ihr Bruder starrte sie wütend an, weil sie ihm zu trotzen wagte, wandte sich dann aber mit einem Achselzucken ab. Über kurz oder lang würde der Schlaf sie überwältigen. Dann würde sie nicht mehr wahrnehmen, ob er die Totenwache übernahm oder wegblieb. Er verließ das Haus und labte sich an der Begrüßung der Nachbarn, die er auf der Straße traf. An diesem Tag klangen ihre Worte viel höflicher und sie verneigten sich tiefer. Nun spürte er erst richtig, dass er jetzt als Herr des Hauses Willinger galt.
Veit Gürtlers Anwesen lag nicht allzu weit entfernt, doch er musste einen Umweg machen, um die stinkenden Gassen zu meiden. Als er sich dem Wohnhaus näherte, riss der Türhüter beide Flügel des Hoftors auf. Ein Neffe Gürtlers trat heraus und empfing ihn wie einen hohen Herrn. Ich bin ja auch ein hoherHerr, dachte Otfried beglückt und beantwortete den Gruß mit einer gewissen Herablassung.
In diesem Haus ging es lebhafter zu als bei Willingers, denn der Kaufherr hatte
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