Die Pilgerin
werden, deren Enteignung bereits so gut wie beschlossen war.
»Nun? Wie lautet deine Entscheidung?« Gürtlers Frage enthielt eine scharfe Warnung, nicht noch im letzten Augenblick auszubrechen. Das allerdings hatte Otfried auch nicht vor. Er studierte die Liste der Hohen Räte, die Gürtler bereits für sich gewonnen hatte, und keuchte auf, als er den Namen von Matthias Schrimpp fand, der offiziell noch als Verbündeter des Bürgermeisters galt.
Mit einer gewissen Anerkennung, aber auch einem Teil Skepsis hob Otfried den Blick. »Die Zahl reicht noch nicht, um einenformellen Beschluss herbeiführen zu können, und nur den werden der Kaiser und die Reichsstände akzeptieren.«
»Das wird sich schnell ändern! Wenn der Name Willinger auf dieser Liste steht, werden sich uns weitere Ratsmitglieder anschließen. Komm, unterschreib!« Gürtler tauchte eine Feder in das Tintenfass und reichte sie an Otfried weiter. Dieser zögerte einen Augenblick, dann setzte er seinen Namen auf das Pergament.
»Wollen wir hoffen, dass wir uns schon bald edle Ritter nennen können. Allerdings sollten sich uns nicht zu viele Ratsmitglieder anschließen. Wir müssen schließlich noch etwas zu verteilen haben!« Otfried lachte darüber wie über einen guten Witz.
Gürtler hielt es für das Beste, in das Lachen einzufallen. Eines war ihm jedoch klar geworden: Otfried Willinger war ein härterer Brocken als all seine anderen Verbündeten zusammen. Aus diesem Grund war es notwendig, ihre Partnerschaft noch auf andere Weise zu vertiefen.
»Nachdem dies geschehen ist, werden wir jetzt den Heiratsvertrag für mich und Ottilie aufsetzen.« Ohne die Reaktion des jungen Mannes abzuwarten, nahm Gürtler ein Blatt Papier und begann zu schreiben.
Otfried sah ihm über die Schulter zu und nickte zufrieden, als er die einzelnen Punkte des Kontrakts las. »So lasse ich es mir gefallen! Dir aber gebe ich den Rat, Tilla nicht Ottilie zu nennen, denn sie wurde seit ihrer Geburt immer nur Tilla genannt. »Als mein Weib wird sie den Namen tragen, der ihr in der heiligen Taufe gegeben wurde, und keinen anderen«, antwortete Gürtler schroff.
Otfried begriff, dass seine Schwester es als Frau seines Freundes und Verbündeten nicht leicht haben würde, doch das entlockte ihm nur ein Achselzucken. Tillas Ehe mit Gürtler würde allenzeigen, wie eng die Verbindung zwischen ihnen war, und ihn mit einem Schlag zum zweiten Mann hinter seinem zukünftigen Schwager machen. In seinen Augen stand ihm dieser Platz zu. Die Willingers hatten immer zu den mächtigsten Familien der Stadt gezählt, und er wollte dafür sorgen, dass dies auch in Zukunft so blieb.
ZWEITER TEIL
Der Aufbruch
I.
Tilla blickte durch das offene Fenster und sah Gürtler mit energischen Schritten die Gasse heraufkommen. Sein weites Gewand blähte sich im Wind wie die Fahne eines wilden Kriegshaufens, und genauso willkommen war er ihr auch. Seit dem Tod ihres Vaters vor drei Wochen hatte es keinen Tag gegeben, an dem Gürtler nicht ihr Haus betreten hatte, und stets hatte er sie dabei mit schlüpfrigen Komplimenten bedacht und ihr sogar an den Hintern oder den Busen gefasst. Bei den ersten Begegnungen hatte sie sich dieses Benehmen verbeten, doch anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, hatte er sie nur mit einem spöttischen Lachen bedacht. Inzwischen ergriff sie bereits bei seinem Anblick die Flucht.
Auch jetzt schloss sie rasch das Fenster und prüfte, ob sie die beiden Ersatzschlüssel in die Ärmeltasche gesteckt hatte, denn anders als andere Hausfrauen durfte sie den großen Schlüsselbund als Zeichen ihrer Herrschaft über das Haus nicht am Gürtel tragen. Das stand, wie der Vater ihr gesagt hatte, nur verheirateten Frauen zu. Dann eilte sie die Treppe hinab. Die Haustür und das Hoftor konnte sie nicht mehr benutzen, denn auf der Gasse würde sie Gürtler direkt in die Arme laufen. Daher rannte sie zum Hintergebäude, durchquerte es und schlüpfte durch die kleine Pforte in den zum Anwesen gehörenden Garten. Ohne anzuhalten hastete sie durch die Beete und stieg über den Bretterzaun. Dahinter verlief ein schmaler Durchgang, der zu einer der stinkenden Gassen führte. Das war kein Teil der Stadt, den sie freiwillig betrat, aber sie hatte nur die Wahl, den Atem anzuhalten und die Ohren gegen ein paar dumme Bemerkungen zu verschließen oder sich von Gürtler betatschen zu lassen.
Während sie den Weg zum Haus ihrer ehemaligen Kinderfrau einschlug, fragte sie sich, weshalb ihr Bruder so
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