Die Pilgerin
kein Kienspan mehr, obwohl sie den Mägden befohlen hatte, darauf zu achten, dass vom Anbruch der Dunkelheit bis zu der Stunde, in der sie zu Bett gingen, immer wieder ein frischer hineingestellt wurde. So aber war sie im eigenen Haus auf die Laterne angewiesen, die Elsa ihr mitgegeben hatte.
Oben angekommen, fiel Tilla auf, wie still es war. Sie spitzte die Ohren und glaubte, leises Murmeln aus der Küche zu vernehmen. Ilga und Ria schienen dort herumzusitzen und sich zu unterhalten, und Tilla hoffte, dass ihre Hände dabei nicht müßig blieben. Es gab in diesem Haushalt viel zu tun. Auch sie musste fest zugreifen, um alles in Ordnung zu halten.
»Vater, ich bin wieder zurück!«, rief Tilla, als sie die Krankenstube betrat. Sie streckte den Arm mit der Laterne nach vorne, denn im Zimmer war es ebenso dunkel wie im Flur. Ihr Blick fiel auf das Krankenlager, und noch bevor sie recht begriff, was sie vor sich sah, öffnete sich ihr Mund zu einem gellenden Schrei. Ihr Vater hing mit dem Oberkörper halb aus dem Bett, als habe er sich vor Schmerzen gekrümmt und sei von den Kissen gerutscht. Sein Gesicht war zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt und seine rechte Hand berührte den Boden. Als Tilla sich vorsichtig näherte, sah sie, dass ihr Vater zwischen den verkrampften Fingern ein winziges Stück Stoff hielt. Mit dem Gefühl, der Fetzen beschmutze die Finger des Toten, bückte sie sich, zog ihn heraus und steckte ihn in eine der kleinen Taschen, die sie in ihren Ärmeln eingenäht hatte.
Ihr Schrei hatte andere Hausbewohner aufgeschreckt, eilige Schritte erklangen auf der Treppe. Als Erste platzte Ilga in die Kammer, sah ihren leblosen Herrn und schrie fast noch lauter als Tilla. Ria folgte ihr mit einem Gesicht, das deutlich ihren Unmut darüber zeigte, dass sie an diesem Tag zum zweiten Mal die steile Treppe ins Obergeschoss hatte bewältigen müssen. Beim Anblick des Toten erbleichte sie jedoch und schlug mehrmals das Kreuz.
»Heilige Maria Muttergottes bitte für uns und alle Sünder!« Dann trat sie auf den Toten zu und versuchte, ihn so zu betten,wie es sich gehörte. Als es ihr nicht gelang, fauchte sie Ilga an. »Hilf mir, du faules Stück!«
Die Augen der jungen Magd sprühten Funken, denn sie war die schlechte Laune und den Kommandoton der alten Frau leid. Obwohl der Tote sie erschreckte, sagte sie sich mit klammheimlicher Freude, dass ihr Stand im Hause Willinger von diesem Tag an ein anderer sein würde. Jetzt musste Otfried sein Versprechen einlösen und sie heiraten. Natürlich konnte er das nicht sofort tun, denn als künftiger Ratsherr musste er stärker noch als andere auf die vorgeschriebene Trauerzeit achten. Die Herrschaft über das restliche Gesinde aber, die Ria sich immer noch anmaßte, würde er ihr bereits jetzt übertragen müssen. Zufrieden mit sich und dieser Entwicklung trat sie neben Ria, packte Willingers Arm und zerrte den starren Körper auf das Bett zurück, als handele es sich um einen Sack Mehl.
»Du solltest den jungen Herrn holen«, sagte sie zu ihrer Herrin, als sei diese auch nur eine Magd.
Tilla schritt wie eine Schlafwandlerin zur Tür und wandte sich zur Treppe.
Otfried kam ihr bereits entgegen. »Was soll der Lärm? Ich habe noch zu arbeiten!« Tillas Bruder hatte in der Zwischenzeit seine Beherrschung wiedergewonnen und es gelang ihm sogar, seine gewohnte Reizbarkeit zu zeigen.
Tilla sank tränenüberströmt in seine Arme. »Unser Vater! Ich glaube, er ist tot!«
»Unsinn!«, wehrte Otfried ab. »Als ich am Abend nach ihm geschaut habe, war er bester Laune und sagte, dass er morgen unbedingt aufstehen wolle, weil es ihm im Bett zu langweilig geworden sei.«
Dann blickte er Tilla an, schob sie etwas von sich und schüttelte den Kopf. »Kann es wirklich sein?«
Ria hatte bereits mehr als eine Leiche gesehen und wirkte völlig ungerührt. »Der Herr ist tot, da beißt die Maus keinen Faden ab. Es kann kein leichtes Sterben gewesen sein, denn er hing schmerzverkrümmt aus dem Bett. Ilga und ich haben ihn wieder daraufgelegt.«
Ilga hingegen scheute sich, den Toten länger anzusehen, und wischte sich die Hand, mit der sie ihn berührt hatte, immer wieder an ihrer Schürze ab.
Otfried fand es an der Zeit, das Heft zu ergreifen. »Wir müssen den Priester holen und den Arzt. Ilga, das ist deine Aufgabe. Du, Ria, gehst wieder nach unten und richtest eine kleine Brotzeit und etwas Wein her, denn die Herren werden hinterher eine kleine Stärkung benötigen. Tilla,
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