Die Pilgerin
Pfarrherr hatte sich noch nicht mit seiner Niederlage abgefunden und versuchte ebenfalls, den Bürgermeister als Verbündeten zu gewinnen. Dieser nahm die Verträge noch einmal an sich und wies auf das Siegel und die Unterschrift des Stadtschreibers, die jeweils unten am Rand der einzelnen Blätter angebracht waren und bekundeten, dass der Inhalt der Urkunde im Stadtarchiv hinterlegt worden war. Nun sah auch Otfried genauer hin und pries den Toten in Gedanken für seine Voraussicht. Gürtler musste den Stadtschreiber, der auch die Stelle eines Notars einnahm, mit jedem der beiden Dokumente noch am Tag ihrer Ausfertigung aufgesucht haben, um die Eheverträge unanfechtbar zu machen.
Laux gab Otfried die Urkunden mit einem Lächeln zurück, welches verriet, dass er seine Niederlage nicht einmal bemerkt hatte. In seinen Augen war mit Gürtlers Tod der Friede in der Stadt wiederhergestellt, und das machte es ihm leicht, den Mann, der sein schärfster Widersacher gewesen war, als Mensch und Mitbürger zu betrauern. Er trat nun auf Tilla zu, die in einem schlechten und viel zu weiten Gewand an der Wand lehnte und die Welt um sich herum nicht wahrzunehmen schien.
»Es tut mir leid, mein Kind, dass es so gekommen ist. Doch fasse Mut. Gott wird auch wieder schönere Tage für dich bereithalten.« Auch hier war er mit der Entwicklung zufrieden. DaTilla so rasch Witwe geworden war, würde sie nach Einhaltung der schicklichen Trauerzeit eine neue Ehe eingehen können. Vielleicht kam dann die Verbindung mit dem Hause Willinger zustande, die er immer noch anstrebte. Otfried würde einen väterlichen Freund brauchen, um beide Handelshäuser zu führen, und Laux war bereit, ihm dabei zur Seite zu stehen.
Tilla gab ihm keine Antwort, sondern sah ihren Bruder mit vom Weinen verschleierten Augen an. »Ich will nach Hause!«
»Du bist Gürtlers Witwe und dies ist jetzt dein Heim!« Otfried wies mit der Hand um sich und ignorierte dabei die zornigen Blicke der beiden Schwestern und ihrer Kinder.
»Du wirst mich brauchen! Radegund ist noch zu jung, um dir deinen Haushalt zu führen, insbesondere, wenn du unterwegs bist.« Tilla sah ihren Bruder dabei flehentlich an. Auch wenn er sich von Gürtler hatte überreden lassen, sie mit diesem zu verheiraten, so hoffte sie doch, er würde sie aus diesem Haus befreien, das ihr mit jedem Herzschlag mehr wie ein Gefängnis erschien.
Otfried lachte auf. »Da ich derzeit keine Reise plane, ist deine Anwesenheit in meinem Haus nicht vonnöten.«
»Aber du musst doch nach Santiago de Compostela pilgern und das Herz unseres Vaters dorthin bringen. Jeden Tag, den du säumst, muss er länger im Fegefeuer schmachten!«
Tillas Verzweiflung rührte Laux, auch wenn dieser sich fragte, weshalb ihre Gedanken ihrem Vater galten und nicht ihrem toten Ehemann. Kurz entschlossen eilte er ihr zu Hilfe. »Eure Schwester hat Recht, Willinger. Ihr müsst den letzten Willen Eures toten Vaters erfüllen.«
»Den letzten Willen meines Vaters kenne nur ich! Ich habe als Letzter mit ihm gesprochen. Da war nicht die Rede davon, dass ich umgehend aufbrechen soll. Irgendwann werde ich es tun.
Vorerst aber ruht sein in Zinn geschweißtes Herz gut in seiner Kammer.«
Tilla las ihm von der Stirn ab, dass das Kästchen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag dort stehen bleiben würde. Außer sich vor Wut ging sie auf ihn los und bearbeitete seine Brust mit ihren Fäusten. »Du musst den Pilgerstab nehmen, Bruder! Vater fordert es von dir!«
Anstatt ihr eine Antwort zu geben, wandte Otfried sich an ein paar handfest aussehende Mägde, die sich draußen auf dem Flur herumtrieben, um nichts von dem zu verpassen, was in den Kontorräumen vor sich ging. »Der Geist meiner Schwester ist durch die beiden Todesfälle umnachtet. Sperrt sie in eine Kammer und lasst sie erst wieder heraus, wenn sie sich beruhigt hat.«
Da die Dienerinnen bereits wussten, wer hier in Zukunft das Sagen hatte, befolgten sie den Befehl auf der Stelle, und Tilla war so schockiert, dass sie sich widerstandslos hinausführen ließ.
Otfried verabschiedete nun den Bürgermeister und den Ratsherrn Schrimpp, und als ihm niemand mehr über die Schulter schauen konnte, legte er die Verträge wieder in die eiserne Kassette und nahm diese an sich. »Die Urkunden werde ich wohl besser in meinem Kontor aufbewahren!« Diese Worte drangen bis zu seiner Schwester hoch und echoten höhnisch in ihrem Kopf, denn sie begriff, dass er sie mit Hilfe des Ehekontrakts bis an ihr
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