Die Pilgerin
den Wünschen des Verstorbenen zuwiderlief. Ihr Bruder hatte sich als herzlos, kalt und selbstsüchtig erwiesen und wie ein Fremder an ihr gehandelt. Sie dachte an die unnatürliche Stellung des Toten und seinen weit offen stehenden Mund, so als hätte er verzweifelt nach Luft gerungen. Konnte es sein, dass er in seiner Verzweiflung den Stofffetzen aus der Kleidung seines Mörders gerissen hatte? Wenn ihre Überlegungen stimmten, war ihr Vater einem Verbrechen zum Opfer gefallen, wie es entsetzlicher nicht sein konnte.
Tilla brach bei dieser Vorstellung in Tränen aus, nannte sich dann aber eine Heulsuse und zwang sich unter Aufbietung ihres gesamten Willens zur Ruhe. Wenn Otfried kaltblütig den eigenenVater umgebracht hatte, würde er nicht davor zurückschrecken, auch sie aus dem Weg zu räumen, zumal sie wohl die einzige Person war, die mit aller Macht darauf drängte, dass er die Pilgerfahrt nach Santiago unternahm. Doch was konnte sie tun? Ihr erster Impuls war, aus dem Haus zu fliehen und Bürgermeister Laux aufzusuchen, um ihm von ihrem Verdacht zu berichten. Doch welche Beweise hatte sie schon außer diesem kleinen Stück Stoff? Selbst wenn der Bürgermeister ihr Glauben schenkte, würde Otfried alles abstreiten und erklären, dass ihr Geist durch die beiden kurz hintereinander stattgefundenen Todesfälle unheilbar zerrüttet sei. Er brauchte nur Gürtlers Verwandtschaft mit einem Teil ihres Erbes zu bestechen, um Zeugen für seine Behauptung herbeizubringen. Mit ihrer Hilfe wäre es ihm möglich, sie durch den Stadtrat aburteilen und in den Narrenturm schaffen zu lassen. Dort würde man sie zwischen den anderen Geisteskranken anketten, so dass sie bis ans Ende ihres Lebens wie ein Tier dahinvegetieren musste.
Laux war ihr gewiss keine Hilfe, denn er hatte nicht genug Macht, sie vor den Nachstellungen ihres Bruders zu schützen. Da auch die alte Elsa ihr keinen Schutz gewähren konnte, gab es niemand, dem sie sich anvertrauen konnte.
Während sie verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Situation suchte, in der ihr Bruder ihr größter Feind geworden war, befragte Tilla immer wieder ihr Gewissen, ob sie Otfrieds Schuld als gegeben ansehen durfte, und betete zur Jungfrau Maria und den Heiligen, denen die Kirchen der Stadt geweiht waren. Dabei erinnerte sie sich, dass sie geschworen hatte, selbst nach Santiago zu pilgern, wenn ihr Bruder es nicht tat. Mit einem Mal sah sie ihren Vater so vor sich, wie sie ihn noch lebend verlassen hatte, und glaubte zu sehen, wie er zustimmend nickte und sie segnete, als bräche sie zu einer langen Reise auf.
Vielleicht haben die anderen Recht und ich bin verrückt geworden, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber wenn es so war, musste sie so bald wie möglich ihrer eigenen Wege gehen. Sie wusste nur nicht, wohin sie sich wenden sollte. Innerhalb des Stadtfriedens und im näheren Umland war sie dem Zugriff ihres Bruders ausgeliefert, und außerhalb des Tremmlinger Gebiets gab es niemand, bei dem sie Unterschlupf finden konnte. So verzweifelt, dass sie sich dem unehrlichen Volk anschließen musste, welches ruhelos über die Straßen wanderte, war sie jedoch noch nicht.
Ihr Blick streifte die Schlüssel, die sie ebenfalls in ihrem Kleid gefunden hatte, und langsam formte sich in ihr eine Idee, die ihr zunächst völlig aberwitzig erschien. Je länger sie jedoch darüber nachsann, umso mehr begriff sie, dass es doch eine Möglichkeit für sie gab, einem drohenden Ende im Narrenturm oder auf der Landstraße zu entkommen. Allein würde sie ihr Vorhaben nicht in die Tat umsetzen können. Doch es gab einen Menschen, der ihr dabei helfen konnte, nämlich Elsa. Zuerst aber benötigte sie Geld und vor allem ihren Heiratsvertrag. Wenn sie wirklich schwanger war, würde das Papier ihre Ansprüche und die ihres Kindes bestätigen.
Und auch im anderen Fall wollte sie endlich lesen, was ihr Bruder mit Gürtler vereinbart hatte.
VIII.
Etwa um die Zeit, in der Tilla ihre Pläne zu schmieden begann, saß Bürgermeister Laux mit seinen Söhnen in einem gemütlich eingerichteten Raum und blickte sinnend auf den vollen Becher Wein in seiner Hand.
»Wie es aussieht, sind die Differenzen im Rat nach GürtlersTod ausgeräumt. Auch seine engsten Anhänger haben heute dem Antrag der Mehrheit ohne jeden Widerspruch zugestimmt.« Obwohl er zufrieden und erleichtert hätte sein müssen, fühlte der Bürgermeister eine Anspannung, die er sich nicht erklären konnte.
Damian nickte erleichtert. »Dann ist
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