Die Pilgerin
Geisteskranken dahinvegetierten. Wahrscheinlich aber würden sie sie als Hexe denunzieren. Einen Prozess würde sie ebenso wenig durchstehen wie die Proben, die feststellen sollten, ob sie mit dem Teufel paktierte oder nicht, und wenn man sie verurteilte, stand den Anklägern der größte Teil ihres Besitzes zu.
Nur ein Kind konnte ihre Lage verbessern. Obwohl Veit Gürtler nicht der Vater war, den sie sich für ihren ersten Sprössling gewünscht hätte, musste sie hoffen, schwanger zu sein. Noch war es jedoch viel zu früh, um etwas feststellen zu können. Bis sie mit Sicherheit sagen konnte, ob sie guter Hoffnung war, würden die anderen sie wohl in den Wahnsinn getrieben haben. In dieser Situation sehnte Tilla sich nach einem Menschen, mit dem sie reden konnte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie und Otfried ohne die Hilfe von Bediensteten zurechtkamen und ihnen eine Leibmagd beziehungsweise einen Leibdiener versagt. Das bedauerte Tilla mehr denn je, denn sie hätte eine Vertraute gut brauchen können. In den ersten drei Monaten der Trauerzeit war es ihr nicht erlaubt, das Haus zu verlassen, und daher konnte sie auch nicht hinauslaufen und Elsa aufsuchen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie sich nicht an die Sitte gehalten und war dafür von Vater Eusebius auch schon kräftig getadeltund mit Gebeten bestraft worden. Hier aber würde man sie mit Gewalt daran hindern, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Besuch bekam sie ebenfalls keinen, denn jeder, der zu ihr wollte, wurde von Gürtlers Verwandten am Tor abgewimmelt.
Während Tilla ein Kleid ausbreitete, das ihr dunkel genug erschien, um nach außen hin Trauer zu bezeugen, und nachsah, ob es Flecken oder Risse hatte, überlegte sie, wie sie sich heimlich davonschleichen konnte, um die alte Elsa aufzusuchen. Doch sie kannte dieses Anwesen nicht gut und hatte bisher keinen Weg entdeckt, auf dem sie es unbemerkt verlassen und wieder betreten konnte.
»Ich muss hier raus, sonst werde ich tatsächlich noch verrückt!« Tilla nickte zu ihren Worten, als wolle sie sie bekräftigen, und nahm das nächste Kleid zur Hand. Es war schwerer als gewohnt und als Tilla es abtastete, entdeckte sie in der Tasche, die sie selbst eingenäht hatte, zwei Schlüssel. Der eine gehörte zur Hintertür ihres Elternhauses und der andere zu den Türen des Rückgebäudes. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie jenes Gewand in der Hand hielt, welches sie in den letzten Wochen getragen hatte. Mit dem weiten Rock aus recht unempfindlichem Stoff hatte sie leicht über den Gartenzaun klettern können, und die Schlüssel waren ihr Schutz gegen weiteren Ärger gewesen, denn wenn sie auf dem Rückweg an die versperrte Tür hätte klopfen müssen, wäre sie jedes Mal von Otfried deswegen gescholten worden. Nun würde sie sie ihm oder dessen kindhafter Frau sobald als möglich übergeben müssen. Sie legte die Schlüssel beiseite und griff aus Gewohnheit noch einmal in die Ärmeltasche. Sie schien leer zu sein, doch als sie ihre Finger herauszog, spürte sie etwas Weiches darin. Sie zog es heraus und hielt den Stofffetzen in der Hand, welchen sie den erstarrten Fingern des Vaters entwunden hatte.
Als sie ihn ins Licht hielt, war es ihr, als träfe sie ein Schlag. DenStoff kannte sie. Aus ihm hatte der Schneidermeister Nodler das Lieblingswams ihres Bruders genäht. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Otfried hatte behauptet, er habe den Vater bei vollem Bewusstsein verlassen. Wie war dieses abgerissene Stück in die Finger des Toten geraten? Nun erinnerte Tilla sich an andere Dinge, die sie in der ganzen Aufregung nicht beachtet hatte. Ihr Vater hatte an jenem Tag ein neues Testament verfassen wollen, welches ihren Bruder gezwungen hätte, sich umgehend auf den Weg nach Santiago de Compostela zu machen. Auch wäre ihre Ehe mit Damian Laux darin festgeschrieben worden.
Ein Verdacht begann in Tilla zu keimen, der so entsetzlich war, dass sie ihn zunächst weit von sich schob. Aber ihre Gedanken kreisten weiter um ihres Vaters Tod. Er hatte wieder frisch und tatkräftig gewirkt, als sie ihn verlassen hatte, um zu Elsa zu gehen, als hätte der Theriak ihm tatsächlich geholfen, und er hatte noch an jenem Tag seinen letzten Willen festschreiben lassen wollen. War er nun vor Aufregung gestorben oder hatte Otfried ihn getötet, um das neue, für ihn schlechtere Testament zu verhindern? Noch vor kurzem hätte sie eine solche Vermutung weit von sich gewiesen. Inzwischen aber war viel geschehen, das
Weitere Kostenlose Bücher