Die Pilgerin
Gürtlers Kontor mit gemischten Gefühlen. Früher, als der Kaufherr sich noch nicht als politischer Gegner erwiesen hatte, war er öfter hier gewesen, um mit ihm Geschäfte abzuschließen. Jetzt wusste er nicht, ob er um den Menschen Veit Gürtler trauern oder besser froh sein sollte, einen erbitterten Gegner los zu sein. Sein Verstand tendierte zu Zweitem. Dennoch achtete er die Gepflogenheiten und kondolierte Gürtlers Schwestern und dem Pfarrherrn. Als er Tilla und Otfried entdeckte, runzelte er verwundert die Stirn und fragte sich, was diebeiden hier zu suchen hatten. Wohl galt der junge Willinger als Gürtlers Freund, aber nun erweckte er den Eindruck, als wäre er hier der Herr und kein Gast, der seine Anteilnahme bekunden wollte.
Otfried bemerkte Laux’ Verwunderung und trat auf ihn zu. »Gott zum Gruße, Bürgermeister. Ihr seid ja rasch erschienen.«
»Nicht rascher als Ihr, Willinger!«
Otfried lächelte leicht. »Eigentlich wollte ich Tilla ihre Aussteuer bringen, doch die Umstände haben mich zum Regierer des Handelshauses Gürtler gemacht.«
Die Auskunft kam so überraschend, dass Laux einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnte. »Ihr wollt hier die Geschäfte führen? Wie ist das möglich? Es ist doch das Recht des Rates, zu bestimmen, wer das Vermögen des Verstorbenen treuhänderisch zu verwalten hat.«
»Das gilt nur, wenn der Tote keine Verfügungen für sein Ableben hinterlassen hat. Doch Gürtler hat angesichts seiner zweiten Heirat vorgesorgt. Hier, seht selbst!« Mit diesen Worten reichte er Laux die beiden Eheverträge.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Bürgermeister die sorgfältig formulierten Abmachungen mit all ihren Unterpunkten und Anmerkungen durchgelesen hatte. Zuerst wollte er nicht glauben, was ihm seine Augen zeigten, doch als er die Verträge noch einmal überflog, gab es keinen Zweifel mehr. Veit Gürtler hatte mit Tilla die Ehe geschlossen, obwohl diese noch in tiefster Trauer um ihren Vater war. Laux ärgerte sich, dass Otfried den Willen seines Vaters, das Mädchen mit Damian zu verheiraten, so offensichtlich missachtet hatte. Mit einer knappen Bewegung reichte er die Dokumente an Matthias Schrimpp weiter, der Tränen in den Augen hatte, als sei ihm ein lieber Verwandter weggestorben.
Nur Otfried ahnte, was den Mann wirklich bewegte. Schrimpp zählte zu den Verschwörern um Gürtler und schien jetzt zu befürchten, ihr Verrat würde ans Tageslicht kommen. Da der andere nicht wissen konnte, dass auch er inzwischen zu der Gruppe zählte, trat Otfried neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und drehte Laux dabei den Rücken zu.
»Lasst Euch versichern, Herr Schrimpp, dass mir das Vermächtnis meines teuren Schwagers heilig ist und ich es Wort für Wort in die Tat umsetzen werde.«
Der Ratsherr blickte ihn fragend an und bemerkte ein kurzes Zwinkern. Einen Augenblick schien er verwirrt, dann atmete er tief durch und reichte den Vertrag zurück. »Veit Gürtler hat sein Haus gut bestellt! Ihr werft jetzt einen verdammt großen Schatten, Willinger. Ich glaube kaum, dass sich noch ein anderer mit Eurem Einfluss hier in Tremmlingen messen kann, den ehrenwerten Herrn Bürgermeister vielleicht ausgenommen.«
Laux sah etwas säuerlich drein, schüttelte aber den Kopf. »Willinger ist der Erbe seines Vaters und darf als solcher dessen Ratssitz einnehmen, obwohl er noch keine vierzig Jahre zählt, wie es die Regel eigentlich vorschreibt. Doch er kann Gürtlers Ratsstimme nicht auch noch auf sich vereinen. Rigobert ist noch viel zu jung für dieses Amt und zudem nicht der Haupterbe. Es bliebe nur Hochwürden Böhdinger, aber ihn wird der Rat ablehnen. Seine Pfarre Sankt Wendelin befindet sich in Bayern und wir wollen keinen von Herzog Stephans Knechten an unserem Ratstisch sehen!«
Bei seinen letzten Worten war Laux zornig geworden und entschuldigte sich bei Gürtlers Schwester Regula dafür. Otfried musste sich abwenden, um ein Grinsen zu verbergen, denn er erkannte den Ausbruch als ein Zeichen von Schwäche und rieb sich innerlich die Hände.
Gürtlers jüngere Schwester zupfte den Bürgermeister am Ärmel. »Wollt Ihr diesen Schandvertrag etwa hinnehmen, der mich und meine armen, vaterlosen Kinder mit einem Bettel abspeist?«
Laux hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Ich kann nichts gegen den verbrieften und gesiegelten Willen Eures Bruders tun, gute Frau.«
»Es haben aber keine Zeugen unterschrieben, wie es eigentlich sein müsste!« Der
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