Die Pilgerin
zufrieden klingende Stimme ihres Bruders. »Wo ist mein Schwager? Ich bringe die Aussteuer meiner Schwester, auf dass sie hier die Herrin sein kann.«
Martin Böhdinger verließ die Schlafkammer des Toten und sah von oben auf Otfried herab. »Das wird wohl nicht mehr möglich sein. Mein Schwager hat die Hochzeitsnacht nicht überlebt.«
Otfried starrte verständnislos zu ihm hoch. »Was sagt Ihr da?« »Veit Gürtler hat heute Nacht das Zeitliche gesegnet! Um der Hinterbliebenen willen werde von nun an ich sein Vermögen verwalten!« Böhdingers Stimme klang wie das Schnurren eines vollgefressenen Katers.
»So?«, stieß Otfried aus. Dann stürmte er die Treppe hoch, platzte in Gürtlers Schlafkammer und starrte auf den Toten. Für einige Augenblicke schien er nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Dann riss er die Decke, die eine Magd wieder über Gürtler gelegt hatte, mit einem heftigen Ruck herunter, warf einen Blick auf die steife Gestalt seines Schwagers und zeigte auf den großen, roten Fleck, der von Gürtlers rücksichtslosem Vorgehen in der Hochzeitsnacht kündete.
Mit einem spöttischen Lächeln sah Otfried auf den Priester hinab. »Wie Ihr seht, wurde die Ehe vollzogen. Meine Schwester ist damit Veit Gürtlers Witwe mit allen Rechten. Sie kann in dieser Nacht sogar schwanger geworden sein. Und selbst wenn dem nicht so ist, muss der Ehevertrag, den ich in ihrem Namen mit meinem Schwager abgeschlossen habe, eingehalten werden.«
Böhdinger und die beiden Schwestern sahen sich bestürzt an, denn mit dieser Entwicklung hatten sie nicht gerechnet. Otfried trat neben den Toten, zog sein Messer und schnitt den dünnen Lederriemen durch, den dieser um den Hals trug und an dem ein kleiner und ein etwas größerer Schlüssel befestigt waren. Er nahm beide an sich und befahl einer Magd, Gürtler wieder zuzudecken.
»Habt Ihr die Leichenfrau gerufen?«, fragte er Böhdinger.
Der Pfarrherr schüttelte den Kopf. »Nein, aber das werde ich gleich nachholen.«
»Tut das und betet ein paar Ave-Maria für den armen Sünder, der ohne den Trost durch die Letzte Ölung von uns gegangen ist.« Mit diesen Worten erinnerte Otfried den Priester daran, dass dieser seine Pflichten als Seelsorger arg vernachlässigt hatte. Bevor Böhdinger ihm antworten konnte, forderte Tillas Bruder ihn jedoch auf, mit ihm zu kommen.
»Es gibt noch etwas zu klären. Das geht auch dich an, Tilla.« Otfried verließ die Kammer und warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob die anderen ihm folgten. Tilla kam als Erste hinter ihm her. Dabei bewegte sie sich ungewohnt steif und schwerfällig, und als er einen Blick von ihr erhaschte, las er darin einen Hass, der ihn im ersten Augenblick verblüffte. Für einen Moment befürchtete er schon, ihr Ehemann wäre so dumm gewesen, ihr zu beichten, wie ihr Vater ums Leben gekommen war. Dann aber erinnerte er sich an die Gerüchte, die über Gürtler im Umlauf waren und in denen es hieß, dieser habe seine erste Ehefrau oft und mit großer Strenge mit dem Stock bestraft. Wie es aussah, hatte der Narr auch Tilla geschlagen, und da er nun tot war, richtete sich der Zorn seiner Schwester auf ihn. Damit würde er wohl leben können, entschied Otfried mit einem innerlichen Auflachen. Im Gegensatz zu Tilla hatte er eine angenehme Hochzeitsnacht verbracht und in Radegund eine zwar unerfahrene, aber gehorsame und willige Gefährtin gefunden. Nun aber war seine Ehefrau darüber hinaus auch der Schlüssel zu noch mehr Reichtum und Macht.
Otfried führte Tilla und die anderen in Gürtlers Kontor und weiter in die Geldkammer. Dort schloss er die große Truhe auf, schob die geheimen Riegel beiseite, die, wie er es beim letzten Mal hatte beobachten können, ähnlich wie bei seinem eigenen Geldkasten funktionierten, und hob den Deckel an. Als Erstes kam die eiserne Kassette zum Vorschein, in der sein Schwager seine wichtigsten Papiere verwahrt hatte. Diese öffnete er mit dem kleineren Schlüssel und nahm die obersten Blätter heraus. Als er sich mit einem kurzen Blick versichert hatte, dass es sich um die richtigen Dokumente handelte, hielt er sie dem Priester so hin, dass dieser die Vereinbarungen lesen konnte, die zumTeil erst am Vortag anlässlich seiner Vermählung mit Radegund zwischen ihm und Veit Gürtler geschlossen worden waren.
»Hier steht, dass meiner Schwester nach vollzogener Ehe im Falle des Ablebens ihres Ehemanns ein Viertel seines Vermögens zusätzlich zu ihrer Mitgift als
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