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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Häuser um ihn herum waren Schemen, die sich kaum von der Gasse oder dem wolkenbedeckten Himmel abhoben, während der Boden unter seinen Füßen Wellen zu schlagen schien wie die Donau. Jetzt bereute er es, so stur gewesen zu sein, doch Anton Schrimpp und die anderen waren längst im Gewirr der Gassen untergetaucht.
    »Ich falle nicht!«, behauptete Sebastian, um sich Mut zu machen, und tastete sich an den Hauswänden entlang. Nach wenigen Schritten schürfte er sich das Schienbein an einem Hindernis auf, das sich wie ein großes Schaff anfühlte, und sein Fluchen hallte kaum leiser durch die Gasse als das Gebrüll, das der junge Schrimpp vorhin ausgestoßen hatte. Jemand öffnete seinen Fensterladen und leerte ein Gefäß über den nächtlichen Schreier aus. Sebastian zuckte unter dem kalten Guss zusammen und befürchtete schon Schlimmes, doch seine Nase verriet ihm, dass es sich nur um Wasser gehandelt hatte. Trotzdem schrie er dem Spender einige wütende Worte zu und humpelte stöhnend weiter.
    Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er sich in seiner eigenen Vaterstadt verirrt hatte. So etwas war ihm seit seiner frühestenKindheit nicht mehr passiert. Da er keinen anderen Anhaltspunkt hatte als das, was seine Hände ihm verrieten, wusste er nicht, in welcher Gasse er sich befand und welche Richtung er einschlagen musste. Er fluchte ausgiebig, wenn auch weitaus leiser, und nannte sich den größten Narren, der in Tremmlingen herumlief.
    Da hörte er plötzlich ein Geräusch. Eine Gestalt kam mit schnellen, aber fast unhörbaren Schritten aus einer Nebengasse. In der Hand trug der nächtliche Passant eine Blendlaterne, die gerade so viel Licht spendete, dass der Boden vor seinen Füßen erleuchtet wurde, er selbst aber im Dunkeln blieb. So schnell, wie der Fremde erschienen war, verschwand er in einer schmalen Gasse.
    Sebastian folgte ihm in der Hoffnung, mit seiner Hilfe nach Hause zu kommen, verlor ihn jedoch aus den Augen und fand sich in einer der übelriechendsten Gassen der Stadt wieder. Allerdings wusste er jetzt, wo er war, denn es gab keinen anderen Teil Tremmlingens, dessen Gestank sich mit dem des schlimmen Viertels messen konnte.
    Während er so flach wie möglich zu atmen versuchte, entdeckte er das Licht des nächtlichen Spaziergängers wieder und versuchte, den Mann zu erkennen. Der aber verbarg seine Gestalt unter einem weiten Mantel oder einem ähnlich schwingenden Kleidungsstück. Nun ging der Fremde auf einen Durchgang zwischen zwei Häusern zu und erreichte kurz darauf die Gasse, die hinter dem Willinger-Anwesen vorbeilief. Da dies der Weg war, den Sebastian einschlagen musste, um nach Hause zu kommen, schlich er dem Unbekannten in der Hoffnung nach, dieser behalte die Richtung bei und leuchte ihm noch einen weiteren Teil des Weges aus. Dann bliebe ihm die Peinlichkeit erspart, jemand um Hilfe bitten zu müssen. Wurde bekannt, dass er sichverirrt hatte, würde er monatelang den Spott und die hämischen Bemerkungen seiner Freunde ertragen müssen, und darauf konnte er verzichten.
    Schon wollte Sebastian sich in die Richtung wenden, in der sein Ziel lag, als er sah, wie die Person über einen Zaun kletterte und in Willingers Garten eindrang. Was hatte jemand in dunkelster Nacht dort zu suchen? Ehrliche Absichten konnte der Kerl nicht haben. Wenn er ihn auf frischer Tat ertappen und fangen konnte, musste Otfried Willinger ihm dankbar sein und ihm erlauben, Tilla zu besuchen. Das arme Mädchen war gewiss außer sich vor Kummer und würde ein freundliches Wort zu schätzen wissen. Noch während Sebastian darüber nachdachte, erreichte der Fremde die Pforte des Rückgebäudes, öffnete sie und verschwand darin. »Das ist kein Einbrecher, sondern jemand, der erwartet wird«, schloss Sebastian daraus und glaubte, ein weiteres Indiz für die Verschwörung gegen seinen Vater gefunden zu haben, die nach seinem Dafürhalten nicht mit Gürtlers Tod zusammengebrochen war. Er schwankte, ob er bleiben oder rasch nach Hause gehen und seinen Vater alarmieren sollte. Wahrscheinlich würde dieser ihn nicht ernst nehmen, denn er hatte ihm verboten, mit weiteren Verdächtigungen zu kommen. Also würde er Beweise liefern müssen, und was war besser als ein abgefangener Verräter? Mit dieser Überlegung stieg Sebastian ebenfalls über den Gartenzaun und legte sich zwischen den Gemüsebeeten auf die Lauer.

X.
    Erst spät in der Nacht war es Tilla möglich gewesen, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Sie hatte sich ein

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