Die Pilgerin
Kleid übergezogen, das sie früher bei groben Hausarbeiten getragen hatte,und blickte auf das kleine Bündel, in dem sich jene Sachen befanden, die sie nicht in diesem Haus zurücklassen wollte. Das Einzige, was ihr fehlte, waren die Holzsohlen, die sie an der Haustür unter ihre dünnen Schuhe hätte binden müssen. Aber die machten zu viel Lärm und schützten das Leder doch nur unzureichend vor dem Dreck in den schlimmen Gassen. Den wichtigsten Gegenstand hatte sie unbemerkt aus dem Flur mitgehen lassen. Es war eine Blendlaterne, ohne die ihr Unterfangen schon bei den ersten Schritten scheitern würde.
Tilla entzündete den Docht der Unschlittkerze, die sich in der Laterne befand, an dem Öllämpchen in ihrer Kammer und blies dieses aus. Im Schein der Laterne überprüfte sie noch einmal all ihre Vorbereitungen. Sie hatte die beiden Schlüssel bei sich, das Stoffstückchen von Otfrieds Wams und ihr fest verschnürtes Bündel. Dieses befestigte sie mit einem Band über der Schulter, um die Hände frei zu haben, nahm die Lampe und schlich zur Tür. Draußen war alles ruhig. Sie holte noch einmal tief Luft und lief auf Zehenspitzen durch den oberen Flur. Auf der Treppe musste sie Acht geben, damit sie nicht auf die knarrenden Stufen trat. Während ihr das Herz in den Ohren pochte, zählte sie mit und vermied so jeden Lärm. Dennoch blieb sie regungslos im Flur stehen und lauschte. Es war jedoch nichts zu vernehmen als das Knacken und Seufzen der Balken und das Nagen der Mäuse hinter der Vertäfelung. Nun kam der schwierigste Teil ihrer Flucht aus dem Gürtler’schen Haus. Zwar fiel es ihr nicht schwer, die Riegel der Haustür zurückzuschieben und den von innen steckenden Schlüssel umzudrehen, doch hinaustreten durfte sie noch nicht. Das Anwesen konnte nur durch das Tor zum Hof betreten werden, und dort war ein Wachhund angekettet, der unweigerlich Alarm schlagen würde. Sie musste warten, bis irgendwo ein anderer Hundzu bellen begann und Gürtlers magerer Köter in das Konzert einfiel.
Für ihre angespannten Nerven dauerte es schier eine Ewigkeit, bis endlich ein Hund anschlug. Der Wachhund blaffte sofort los und Tilla hörte seine Kette rasseln. So schnell sie konnte riss sie die Tür auf, schlüpfte hinaus und eilte zum Hoftor. Dieses war mit einem schweren Balken verschlossen, den sie zunächst nicht von der Stelle bewegen konnte. Sie geriet in Panik, riss sich dann aber zusammen und tastete nach dem Holzpflock, mit dem der Balken gesichert war. Als sie ihn herauszog, schwang der Balken fast von selbst hoch. Tilla stemmte sich gegen das Tor, öffnete es einen Spalt und zwängte sich hinaus. Für einen Augenblick lehnte sie sich erschöpft gegen das Holz, hörte aber dann, wie der Balken drinnen zu Boden polterte, und rannte erschrocken los.
Nach ein paar Schritten konnte sie um eine Ecke biegen und hatte sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie die Blende der Laterne schließen konnte, bis nur noch ein dünner Lichtschein auf die Straße fiel. Auf diese Weise, hoffte sie, würde ihr Licht nicht schon von weitem bemerkt werden und Aufmerksamkeit erregen. Sie war früher nur selten an dem Gürtler’schen Anwesen vorbeigekommen, aber sie kannte die Gassen gut genug, um von dort aus auch im Dunkeln den Weg zum Willinger-Anwesen finden zu können. Bei dem Gedanken wurde ihr klar, dass es zwar ihr Elternhaus, aber nicht mehr ihr Zuhause war. Jetzt gehörte es einem Vatermörder. Sie aber hatte mit der Flucht aus dem einzigen Haus, das ihr noch Obdach gegeben hatte, den Schutz des Stadtfriedens verloren, und wenn ihre Pläne nicht aufgingen, würde sie heimatlos umherwandern müssen, bis sie irgendwo am Rand der Straße starb.
Unterwegs vernahm sie das Gegröle von Betrunkenen und beschleunigte ihre Schritte. Kurz darauf hatte sie den Gartenzaunihres Elternhauses erreicht, kletterte auf gewohnte Weise hinüber und eilte zur Tür des Rückgebäudes. Für einen Augenblick geriet sie in Panik. Wenn diese von innen verriegelt war oder ein Schlüssel im Schloss steckte, würde sie scheitern, bevor sie ihren Weg begonnen hatte. Das Glück war jedoch mit ihr. Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und vernahm ein leises Knacken. Als sie sich leicht gegen die Pforte lehnte, schwang diese geräuschlos auf. Tilla lächelte zufrieden, denn sie selbst hatte dafür gesorgt, dass die Angeln der Türen gut eingefettet waren.
In der vertrauten Umgebung benötigte sie die Laterne nicht, sie hätte jeden
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