Die Pilgerin
Flur und jede Kammer in absoluter Dunkelheit finden können. Trotzdem ließ sie die Kerze brennen, schloss jedoch die Blende und verbarg die Laterne unter dem dicken wollenen Schultertuch. Kurz lauschte sie, dann zählte sie die Schritte bis zur Hoftür und stieß schon bald mit der Hand dagegen. Wie erwartet, war sie unverschlossen. Ihr eigener Kettenhund schlug nicht an, denn er war gewohnt, dass die Knechte und Mägde nachts über den Hof liefen, um den Abtritt aufzusuchen. Tilla hastete zum Wohnhaus hinüber und öffnete die Hintertür. Auch diese war nicht abgeschlossen, obwohl die wenigen Bewohner es vorzogen, ihr Nachtgeschirr zu benutzen, anstatt die Treppen hinab und über den Hof zu laufen. Einen Augenblick ärgerte Tilla sich über diese Schlamperei, denn auf dem Speicher lagerten kostbare Waren. Dann zuckte sie mit den Schultern, das Ganze ging sie nichts mehr an.
Im Flur horchte sie und schaute sich um, ob irgendwo ein Lichtschein durch einen Türspalt fiel. Doch es war alles dunkel und so ruhig, dass sie das Fiepen einer Ratte in den oberen Stockwerken hören konnte. Da sie zuerst das Herz ihres Vaters an sich bringen wollte, stieg sie vorsichtig die Treppe hinauf undmied dabei alle Stufen und Dielen, die knarren konnten. Otfrieds Schlafzimmer, das er nun wohl mit seiner jungen Frau teilte, lag gleich neben dem kleineren Raum, den ihr Vater zuletzt bewohnt hatte, und sie fürchtete, ihn oder Radegund mit dem kleinsten Geräusch zu wecken.
Als sie im oberen Flur stand, hörte sie ihren Bruder so laut schnarchen, als stände sie neben seinem Bett. Es klang nicht so, als plagten ihn Albträume oder ein schlechtes Gewissen. In ihr stieg der gleiche Hass auf, den sie nach ihrer Hochzeitsnacht empfunden hatte, und dieses Gefühl hätte sie beinahe verlockt, in Otfrieds Kammer zu platzen und ihm alles an den Kopf zu werfen, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Sie sammelte sich jedoch, betrat das Zimmer ihres Vaters und zog die Laterne unter dem Schultertuch hervor. Sie musste nicht lange suchen, das Zinnkästchen mit dem Herz stand auf der Truhe, die seine Kleider enthalten hatte.
Der Zinnbehälter war etwa so groß wie der Kopf eines Kindes und erstaunlich leicht. Vorsichtig, als bestände er aus zerbrechlichem Porzellan, drückte Tilla ihn an sich und küsste ihn. »Ich bringe dich nach Santiago, Vater, auf dass dir die Vergebung deiner Sünden zuteil werde«, sagte sie fast tonlos. Dennoch gellte ihr die eigene Stimme in den Ohren und sie zuckte erschrocken zusammen. Nebenan rührte sich jedoch nichts, und so konnte sie den Behälter in ihr Bündel packen und die Kammer unbemerkt verlassen. Nun galt es, den zweiten Teil ihres heimlichen Besuchs hinter sich zu bringen. Wenn sie je in die Lage kommen wollte, ihre Ansprüche durchzusetzen, benötigte sie ihren Heiratsvertrag. Den würde sie mitnehmen müssen, denn Pergament brannte allzu leicht und sie traute Otfried inzwischen jede Schlechtigkeit zu. Er hatte die Verträge an sich genommen und Tilla glaubte zu wissen, wo sie sich befanden.
Die Tür des Kontors war normalerweise verschlossen, doch der alte Willinger hatte für den Fall, dass sein Schlüssel verloren ging, einen zweiten anfertigen lassen und zusammen mit dem Ersatzschlüssel für die Geldtruhe in der Kammer seiner Tochter versteckt, denn er war überzeugt gewesen, dort würde niemand so etwas Wertvolles vermuten. Außer ihr wusste nur Otfried davon, und sie hoffte, dass er die beiden Schlüssel nicht weggenommen hatte. So schlich sie eine weitere Treppe hoch und betrat ihr Zimmer. Zu ihrer Erleichterung lagen die Schlüssel noch an ihrem alten Platz. Kurz darauf stand sie in der Geldkammer und leuchtete sie aus. Die große Geldtruhe wurde zuerst mit dem Schlüssel und dann mit einem speziellen Mechanismus geöffnet, der die Riegel im Deckel zurückzog. Nun war sie froh um ihre Neugier, denn dieses Geheimnis war ihr nicht lange verborgen geblieben.
Es ging nicht ganz so einfach, wie Tilla es sich vorgestellt hatte, und als die Truhe endlich offen stand, musste sie ihr wild klopfendes Herz beruhigen, denn sie stand vor einem neuen Problem. Zwar befand sich die eiserne Schatulle, die ihren Ehevertrag enthalten musste, in der Geldtruhe, aber den Schlüssel zu diesem Kasten besaß Otfried. Ohne Hammer und Meißel konnte sie die Metallkassette nicht aufbrechen. Kurz überlegte sie, ob sie auf ihren Vertrag verzichten sollte, schüttelte dann aber wild den Kopf. Wenn Otfried wirklich der Mörder
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