Die Pilgerin
ihres Vaters war, durfte sie ihm nichts lassen, das er gegen sie verwenden konnte. Kurz entschlossen hob sie die Schatulle heraus, nahm einige Beutel mit Gold und einen mit kleineren Münzen an sich und schloss die Truhe wieder. Das Geld würde ihr die lange Reise erst ermöglichen.
Noch einmal lauschte sie, vernahm aber nur das Knacken der Balken und ein feines Rascheln, das nicht von Menschen stammte.Um einiges ruhiger als bei der Flucht aus dem Gürtler-Haus kehrte sie auf dem gewohnten Weg zur Gartenpforte des Hinterhauses zurück, ohne von einem Bewohner des Anwesens bemerkt worden zu sein. Aufatmend schloss sie die Tür hinter sich ab. Jetzt hieß es schnell zu sein, denn sobald ihr Bruder die Truhe öffnete, würde er das Fehlen der Schatulle bemerken und wissen, wer sie gestohlen hatte.
Gerade als sie sich umdrehte und die Blende der Laterne ein wenig öffnete, um im Garten nicht zu stolpern, wuchs ein Schatten neben ihr aus dem Boden und eine kräftige Hand packte sie an der Schulter.
Jetzt ist alles aus, dachte Tilla und knickte leicht ein. Gleichzeitig erwachte ihr Trotz. Sie stieß die Schatulle gegen den Brustkorb ihres Angreifers, befreite sich mit einer Drehung aus seinem Griff und rannte auf den Zaun zu. Der weinsauer riechende Mann fluchte leise und folgte ihr, stolperte aber nach wenigen Schritten und stürzte. Ehe er sich wieder aufgerafft hatte, war Tilla trotz Bündel, Laterne und Schatulle über den Zaun geklettert. Da sie den Atem des Verfolgers im Nacken zu spüren glaubte, lief sie, so schnell sie konnte, Richtung Stadtmauer. In ihrer Aufregung bemerkte sie nicht, dass der Mann mit einem Fuß zwischen den Holzlatten hängen blieb und mit dem Gesicht voran auf die Straße stürzte.
Sebastian hatte Tilla nicht erkannt, sondern hielt sie immer noch für einen Verschwörer, den er fangen musste. Schnell wälzte er sich herum, befreite seinen Fuß und hinkte hinter dem dünnen Schein der Blendlaterne her, die sich immer weiter von ihm entfernte. Seine rechte Gesichtshälfte brannte, seine Brust schmerzte von dem Stoß mit einem harten Gegenstand, und sein Fuß wollte ihn nicht richtig tragen. Aber seine Wut war so groß, dass er die Person dingfest machen wollte, die ihm entschlüpft war. Er folgte ihr bis in die schlimmen Gassen, stolperte dort über einen Eimer, den irgendjemand auf der Straße stehen hatte lassen, und klatschte in den stinkenden Schlamm, der knöchelhoch den Boden bedeckte.
XI.
Atemlos schlug Tilla einige Haken, bis sie sicher sein konnte, ihren Verfolger abgeschüttelt zu haben. Sie war fest überzeugt, es mit einem Knecht ihres Bruders oder schlimmer noch, mit diesem selbst zu tun gehabt zu haben, und die Angst gaukelte ihr vor, dass man am Morgen die gesamte Stadt nach ihr absuchen würde. Sie überlegte schon, ob sie sofort zum nächstgelegenen Tor laufen und sich mit einer Münze den Weg in die Freiheit erkaufen sollte. Doch für eine Reise war sie zu schlecht ausgerüstet und sie wollte die eiserne Schatulle, die neben ihrer Heiratsurkunde wohl noch andere wichtige Papiere barg, nicht mit in die Ferne nehmen, denn sie war unhandlich und konnte ihr zu leicht gestohlen werden.
Noch während sie über ihre nächsten Schritte nachsann, erreichte sie das Häuschen ihrer Kinderfrau. Die Fensterläden und die Tür waren verschlossen, und Tilla konnte es sich nicht leisten, laut zu rufen. Im Schein der Lampe suchte sie ein paar kleine Steinchen und Schmutzbrocken und warf sie gegen den oberen Fensterladen.
Für Tillas überreizte Sinne dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich im Haus etwas tat und die Witwe oben herausschaute. Sie hielt eine Öllampe in der Hand, die ihr Gesicht in flackerndes Licht tauchte, und sah aus, als wolle sie jeden Augenblick lospoltern.
»Pssst! Ich bin es!«, rief Tilla so laut, wie sie es gerade noch verantworten konnte, und richtete den Schein ihrer Laterne kurz auf sich.
Elsa Heisler starrte sie an, als könne sie es nicht glauben, und schüttelte den Kopf. »Aber Kleines, was machst du mitten in der Nacht auf der Straße?«
»Das erzähle ich dir drinnen. Lass mich bitte ein!«
Da sich in der Nachbarschaft etwas regte, öffnete Tilla rasch die Klappe der Laterne und blies die Unschlittlampe aus. Die Witwe begriff, dass ihr früherer Schützling Gründe hatte, nicht erkannt zu werden, schlüpfte in ihr Hemd und eilte so rasch, wie ihre alten Knochen sie trugen, die Treppe ins Erdgeschoss hinab.
Kurz darauf stand Tilla zitternd vor
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