Die Pilgerin
drücken mussten.
Rüpel!, schimpfte Tilla in Gedanken, vergaß Hermann jedoch gleich wieder und richtete ihren Blick nach vorne. Doch mehr als graues Wasser und einen grauen Himmel gab es nicht zu sehen. Wenn je ein gegenüberliegendes Ufer existiert hatte, so lag es nun hinter Dunst und Regen verborgen. Sie fragte sich, wie der Schiffer bei solchen Verhältnissen seinen Kurs finden sollte, und sah den Prahm bereits auf dem riesigen See herumirren. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie die Segel des Schiffchens den Wind einfingen und es auf die düstere Wasserwelt hinauszogen.
»Wir müssen ein wenig kreuzen«, erklärte der Schiffer.
Tilla begriff nicht, was er damit meinte, aber sie hatte auch nicht die Muße, über seine Worte nachzudenken, denn sie musste sich festhalten, um nicht aus ihrem Winkel zu rutschen und gegen Hedwig zu stoßen. Die Wellen des Sees rollten nun ungehindert durch Steg und Mole gegen den Rumpf und ließen den Prahm tanzen wie jene Spielzeugboote aus Kiefernrinde, die Sebastian und sie als Kinder auf den Weiher gesetzt und mit Pusten angetrieben hatten.
Hedwig begann zu beten, verstummte jedoch nach wenigen Worten und stöhnte jämmerlich. Gleichzeitig stieß sie geräuschvoll auf. »Mir wird ganz schummrig«, klagte sie und schlug die Hände vor das Gesicht.
»Weiber!« Der Schiffer spuckte ins Wasser und zeigte damit, was er von Leuten hielt, denen bei ein klein wenig Wellengang schlecht wurde.
Tillas Magen rebellierte ebenfalls und sie kämpfte damit, ihrFrühstück bei sich zu behalten. Hedwig gelang dies nicht, aber sie schaffte es, den Kopf so zu drehen, dass sie ihn über Bord stecken konnte, und dann würgte sie zum Gotterbarmen.
Damit steckte sie Renata an, die nicht mehr in der Lage war, sich dem See zuzuwenden. Vater Thomas, der auf einem großen Fass thronte, stupste Tilla mit den Zehenspitzen an. »Kümmere dich um sie!«
Tilla nickte mit bleichen Lippen und kroch zu ihr hin. Der Schiffsknecht warf ihr ein altes Tuch zu, mit dem sie Renata säubern konnte, und riet ihr, das Gesicht der Frau mit Wasser zu benetzen. Da es noch immer regnete, wunderte Tilla sich über den Rat. Sie befolgte ihn jedoch und schöpfte mit der Rechten Wasser aus dem See und wusch Renatas Gesicht und deren beschmutzte Pelerine ab. Da sie sich danach um Hedwig kümmern musste, die sichtlich verfiel, hatte sie zu viel zu tun, um noch an ihre eigene Übelkeit denken zu können.
Anderen erging es nicht so gut wie ihr. Hermann hatte sich heimlich ein großes Stück Wurst besorgt und es mit mehreren Bechern Wein hinuntergespült. Jetzt drängte das fette Essen mit aller Macht ans Tageslicht, und während er sich röchelnd erbrach, ärgerte er sich beinahe schwarz, weil er das gute Geld nur ausgegeben hatte, um die Fische des Bodensees zu füttern.
Als das andere Ufer vor ihnen auftauchte und der Schiffer seinen Prahm zielgenau in den Konstanzer Hafen steuerte, waren alle heilfroh, dieses Abenteuer überstanden zu haben. Vater Thomas segnete den Schiffer und seinen Knecht und empfahl sie der heiligen Anna und dem heiligen Christophorus, den Schutzheiligen der Reisenden und Fahrensleute. Dann stapfte er den Weg zum Münster hoch, um dem Herrn für die glück liche Überfahrt zu danken. Seine Gruppe folgte ihm wie Küken einer Henne, auch wenn Tilla Hedwig und Renata stützen musste, damit sie einen Fuß vor den anderen setzen konnten. Doch mehr als alle anderen waren die beiden Frauen gewillt, den heiligen Ort aufzusuchen. Dort stellten sie unter Tränen Kerzen zu Ehren der Heiligen Jungfrau auf und baten diese, ihnen ähnliche Beschwernisse auf ihrem weiteren Weg zu ersparen.
X.
Anders als Rigobert Böhdinger und Anton Schrimpp, die beritten waren und auf ihrer Suche weite Wege zurücklegen konnten, musste Sebastian Laux seinen Verstand benützen. Selbst wenn er rasch ausschritt, war er nicht viel schneller als Tilla und konnte sich daher nicht erlauben, fehlzugehen. Aus diesem Grund versuchte er, sich in die junge Frau hineinzuversetzen.
Es gab viele Pilgerwege, die nach Santiago führten und dabei andere heilige Stätten berührten, von denen die Pilger einige besuchen sollten. Erst im fernen Spanien vereinigten sie sich zu einer Straße. Bis dorthin herumzulaufen, ohne Tilla gefunden zu haben, hielt Sebastian für sinnlos, denn unterwegs lauerten viele Gefahren auf eine Frau. Jeder Tag, den Tilla ohne seinen Schutz auskommen musste, konnte ihr letzter sein, und er machte sich Sorgen, dass
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