Die Pilgerin
Erleichterung waren Rigobert und Anton Schrimpp der Gruppe nach dem Aufbruch von Eberhardtszell nicht mehr begegnet, und sie hoffte mit jedem weiteren Tag mehr, ihnen entkommen zu sein.
»He, Otto, bring mir zu trinken!« Hermanns barsche Stimme riss Tilla aus ihren Gedanken. Sie waren an einem Bach angelangt, der nach Süden floss und, wie Vater Thomas erklärt hatte, sein Wasser bald in den Bodensee ergießen würde. Das Nordufer des Sees war ihr Tagesziel, aber bis dorthin würden sie noch einige Stunden wandern müssen. Jetzt rastete die Gruppe neben einem Wegkreuz unter einer alten Eiche, die ihre Äste wie unzählige Arme ausstreckte.
Tilla nahm die aus einem ausgehöhlten Kürbis gefertigte Flasche, die Hermann ihr hinreckte, und stieg die paar Schritte zum Wasser hinab, um sie zu füllen. Der Mann hätte es auch selbst tun können, aber er genoss es sichtlich, bedient zu werden. Tilla zuckte mit den Schultern. Sich über solche Leute zu beschweren war ebenso sinnlos, wie über das Wetter zu schimpfen. Sie konnte beides nicht ändern, und bislang hatte Petrus seine schützende Hand über sie gehalten.
Kaum hatte sie Hermann die Flasche übergeben, als Robert ihr die seine in die Hand drückte. »Ich brauche auch Wasser.«
»Jeder von uns braucht Wasser, aber deswegen muss Otto nicht mit jeder Flasche einzeln laufen.« Ambros bedachte Robert und Hermann mit einem bitterbösen Blick und machte sich daran, die Trinkflaschen der ganzen Gruppe einzusammeln.
»Ich reiche sie dir an, dann kannst du sie füllen und mir zurückgeben«, sagte er zu Tilla.
»Danke!« Tilla lächelte, denn Ambros war wirklich ein angenehmer Weggefährte. Er schien nicht vergessen zu haben, dass sie ihn in Ulm vor Schaden bewahrt hatte, und bewies dies Tagfür Tag, indem er ihr die Arbeit erleichterte, so weit Vater Thomas es zuließ. Dieser hatte der Gruppe erklärt, dass Otto eine sehr große Sünde auf sich geladen hätte und daher büßen müsse. Zu Tillas Freude ließen auch Dieter und Manfred es sich nicht nehmen, einige Dinge selbst zu tun. Einer schnitt jetzt den Brotlaib, den sie einer Bäuerin abgehandelt hatten, in zwölf etwa gleiche Teile und reichte sie den anderen, während Hedwig einen Brocken frischen Käses zerbrach, so dass jeder ein Stück davon nehmen und mit der Hand auf dem Brot verstreichen konnte.
Nachdem die Wasserflaschen voll waren, setzten sich Tilla und Ambros zu den anderen und erhielten ihren Anteil an Brot und Käse. Vater Thomas schien heute gut aufgelegt zu sein, denn er erzählte ihnen eine Geschichte über den mächtigen See, den sie bald zu Gesicht bekommen würden, und wies zuletzt zum Himmel.
»Vielleicht können wir heute noch übersetzen. Der Wind steht gut und wer weiß, wie er morgen weht. Der Bodensee kann manchmal recht rau werden.«
Hermann warf einen zweifelnden Blick auf den Sonnenstand. »Wollt Ihr wirklich heute noch übersetzen, ehrwürdiger Vater? Da müssten wir ja fliegen!«
»Langsam gehen und zu lange rasten sollten wir freilich nicht.« Vater Thomas steckte den letzten Bissen Brot in den Mund und leckte sich die Finger ab.
Für die anderen war es das Zeichen zum Aufbruch. Dieter, der an der Reihe war, das Kreuz zu tragen, wuchtete es hoch und machte sich auf den Weg. Ambros und Tilla waren noch nicht ganz mit dem Essen fertig, doch als sie das Brot wegstecken wollten, hob Vater Thomas die Hand.
»Esst! Ihr braucht die Kraft. Die anderen sollen jedoch schonein Gebet anstimmen.« Er begann mit dem Paternoster und schritt dabei so kräftig aus, dass er bald zu Dieter aufschloss.
»Geht es noch, mein Sohn, oder soll dich ein anderer ablösen?«
»Was soll das?«, rief Hermann empört. »Wir anderen mussten das Kreuz ja auch bis zum Abend tragen.«
Vater Thomas drehte sich zu ihm und schüttelte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf. »Es gilt den See rechtzeitig zu erreichen, wenn wir heute noch hinüberfahren wollen. Andererseits täte es der einen oder anderen Seele gewiss gut, wenn wir auf dieser Seite noch einmal Rast machen und unsere Herzen im Gebet erleichtern würden. Ich glaube, das werden wir auch tun.« Er wurde nun langsamer und bat dabei einige Heilige, ihnen auf ihrer weiteren Reise beizustehen.
Die anderen hingegen funkelten Hermann ärgerlich an. Wohl war es noch ein weiter Weg bis Santiago und sie würden noch in vielen Kirchen beten, dennoch hatten sie gehofft, den Bodensee, der wie ein Riegel aus Wasser vor ihnen lag, so rasch wie möglich
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