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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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ihr Weg in einem Grab am Straßenrand enden würde, während er in der Ferne weilte und vergebens auf ihr Kommen wartete.
    Der Gedanke an eine tote Tilla erfüllte ihn mit einer ihm unerklärlichen Angst. Dabei war sie für ihn nichts weiter als die Spielgefährtin früherer Jahre. Während andere Mädchen mit vierzehn, fünfzehn Jahren bereits wie Frauen wirkten, war sie dünn und geschlechtslos geblieben, und anders als bei einigenvollbusigeren Mädchen hatte er sich nie gewünscht, ihr unter den Rock zu schauen. Aber wenn er es sich so recht überlegte, hatten jene anderen Mädchen ihn über ihre körperlichen Reize hinaus nicht interessiert, denn unterhalten hatte er sich mit den kichernden Dingern nicht können. Tilla war die Einzige gewesen, die zumindest früher Verständnis für seine Scherze aufgebracht hatte.
    »Ulm!«, sagte er zu sich. Die Stadt war einer der großen Treffpunkte der süddeutschen Santiago-Pilger. Doch selbst mit Flügeln wäre es unmöglich gewesen, die Stadt noch vor Tilla zu erreichen. Lange würde sie sich dort gewiss nicht aufhalten, also verlor er kostbare Zeit, wenn er sich dorthin wandte. Doch wo sollte er seine Suche nach ihr beginnen? Er rechnete durch, um wie viel schneller er sein konnte als sie und welchen Vorsprung sie haben mochte, und begriff, dass er sie wohl kaum vor dem Bodensee einholen konnte. Da er nicht wusste, ob es ihr dort möglich war, ein Schiff zu benutzen, oder ob sie um das riesige Gewässer herumwandern musste, konnte er sie dort leicht verfehlen. Der Bodensee war also nicht der rechte Platz, um sie abzufangen. Es musste ein Ort sein, an dem sie ganz sicher auftauchen würde. Da er wusste, wie gewissenhaft sie die Dinge ausführte, die sie sich vorgenommen hatte, wurde ihm klar, wo er sie erwarten konnte – nämlich beim Kloster Einsiedeln im Zürichgau. Berühmter als dieser Wallfahrtsort war kaum ein anderer in deutschen Landen.
    Von Tremmlingen aus wurden alle drei Jahre Wallfahrten dorthin unternommen, und an der letzten hatte er teilnehmen dürfen. Dieses Wissen wollte er jetzt nutzen.
    Von der Stelle aus, an der er sich befand, wäre es ein Umweg gewesen, über Ulm und Konstanz zu reisen, und so lenkte er seinen Schritt nach Süden auf Lindau zu. Da er nicht wusste,wie rasch Tilla vorwärts kam, schritt er fest aus und hielt sich nirgends länger auf als nötig. Während er die hügelige Landschaft Schwabens durchmaß und im Süden die blau schimmernden Gipfel des Gebirges mit jedem Tag mehr gen Himmel aufwachsen sah, beschäftigten seine Gedanken sich beinahe ständig mit Tilla und den Gefahren, die ihr drohen mochten. So kam es, dass er am Abend, wenn er in einer Herberge oder im Hospiz eines Klosters übernachtete, sie in Gedanken verzweifelt beschwor, es wenigstens bis Einsiedeln zu schaffen.
    Wenn die Sonne hell schien, verflüchtigten sich seine Befürchtungen, und er sagte sich, dass Tilla sich bisher immer zu helfen gewusst hatte und auch beherzter gewesen war als alle anderen Mädchen. Genau genommen hatte sie auch die meisten Knaben an Mut und Entschlossenheit übertroffen und war selbst nicht vor Streichen zurückgescheut, die anderen vor Angst die Tränen in die Augen getrieben hatten. Als sie etwa acht Jahre alt gewesen waren, hatten sie an einem Markttag ihre Kleidung getauscht und waren so durch die Stadt geschlendert. Dabei hatte Tilla ihr langes Haar unter seiner Mütze verborgen und er ihr Schultertuch über den Kopf gezogen, damit man seine kurzen Locken nicht sehen konnte. Es war ein Riesenspaß gewesen, denn sie waren unerkannt geblieben, und selbst ein paar Tage danach hatten sich einige Leute noch über die fremden Kinder unterhalten, die offensichtlich alleine in die Stadt gekommen waren – obwohl die Wächter am Tor dies abgestritten hatten.
    Als er sich gerade darüber amüsierte, wie eine Marktfrau den beiden hungrig aussehenden Kleinen je eine halbe Wecke geschenkt hatte, durchzuckte es ihn wie ein Schlag. Was damals im Scherz geschehen war, konnte Tilla auch heute noch wagen. Sie war größer als die meisten Frauen und hatte nicht jeneschwellenden Formen, die ein richtiges Weib erst ausmachten. Wenn sie Männerkleidung anzog, würde gewiss keiner Verdacht schöpfen.
    In den nächsten Tagen spielte er immer wieder mit der Vorstellung, Tilla könne sich verkleidet haben. Auch war es möglich, dass sie nicht nach Ulm gegangen war, sondern den direkten Weg nach Einsiedeln genommen hatte, den sie gewiss aus Erzählungen

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