Die Pilgerin
Sorge um die Verschwundene trieb.
Diese Überlegung befreite ihn jedoch nicht von der Entscheidung, was er nun mit Tilla anfangen sollte. Sie war als Weib geboren und verhöhnte Gott mit ihrer Männerkleidung. Da er nun ihre Verfolger kennen gelernt hatte, konnte er jedoch verstehen, was sie zu dieser Handlung getrieben hatte.
Vater Thomas schob seine Entscheidung hinaus, bis er fertig gegessen hatte, dann fiel seine rechte Hand schwer auf Tillas Schulter. »Ich glaube, wir beide müssen jetzt miteinander reden. Versuche mich jedoch nicht zu belügen, es würde dir Schaden bringen, wenn nicht jetzt, so auf der Weiterreise.«
Die Wahl seiner Worte ließ Tilla aufatmen. Wie es aussah, hatte ihr Pilgerführer nicht vor, sie umgehend an Anton und Rigobert auszuliefern. Sie weinte beinahe vor Erleichterung und nahm sich vor, Vater Thomas alles zu bekennen, was sie wusste. Dieser winkte ihr, ihm zu folgen, und führte sie in eine kleine Kapelle, die etwas abseits vom Kloster lag. Während der Pilgerhof des Klosters inzwischen von Fackeln erhelltwurde, war es hier so dunkel, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
Dies schien Vater Thomas nicht zu stören. Er machte den Eindruck, als könne er sogar in tiefer Nacht sehen, denn er führte Tilla nach vorne zum Altar, ohne gegen eine der Bänke zu stoßen. Sie wunderte sich darüber, aber sie konnte nicht wissen, dass sie nicht die erste Person war, der Vater Thomas an dieser Stelle die Beichte abnahm. Ihr Bericht war nur einer von vielen, die er sich anhörte, weil er sich ein Urteil über die Personen bilden wollte, die sich für die weite Reise unter seinen geistlichen Schutz gestellt hatten.
VIII.
Vater Thomas erlaubte Tilla, bei der Pilgergruppe zu bleiben, doch der Preis dafür war hoch. Solange sie als Mann galt, hatte sie das Pilgerkreuz der Gruppe an jedem Tag zu tragen, an dem sie an der Reihe war. Zudem hatte Vater Thomas ihr aufgetragen, die anderen zu bedienen und sich ihrer anzunehmen, wenn sie nach dem langen Tagesmarsch mit wunden und lahmen Füßen an ihr Ziel gelangten.
Während ihre Begleiter sich ausruhen und auf die Pilgersuppe warten konnten, musste Tilla sich um ihre Sachen kümmern, Wasser holen, den Mönchen beim Auftragen des Essens helfen und zuletzt noch die Füße ihrer Gefährten waschen und massieren, bevor ihr selbst erlaubt wurde, zu essen und sich zu waschen. Auch verbot Vater Thomas ihr, in den Schlafsälen der Pilger zu übernachten, und so musste sie sich in ihren Mantel hüllen und unter Vordächern oder vor den Türen zusammenrollen. Was die Übrigen jedoch als schlimme Strafe ansahen, stellte für sie denbesten Schutz dar. Zwischen den anderen Pilgern wäre sie sofort aufgefallen, denn diese legten sich zumeist nackt auf die Matten, die ihnen als Betten dienten, und deckten sich mit ihren Mänteln zu. Den Frauen wurde ihr Platz links, den Männern rechts angewiesen, und die Mönche, die über die Schläfer wachten, sorgten dafür, dass die gottgewollte Sittsamkeit keinen Schaden nahm. Ihr strenger Blick brachte selbst Ehepaare dazu, einander in der Nacht zu meiden. Dies war im Sinne der Pilgerschaft, denn auch Paare sollten beten und sich in Enthaltsamkeit üben, bis sie ihr gemeinsames Ziel erreicht hatten.
Unter den Vordächern der Klöster war es kalt und manchmal regnete es auch, doch dafür sah Tilla den Glanz der Sterne über sich und entkam den üblen Gerüchen, die die Schläfer im Saal von sich gaben und deretwegen Türen und Fenster am Morgen weit aufgerissen werden mussten. Nach dem Erwachen fand Tilla kaum Zeit für sich selbst, denn sie musste das Brot und den Morgenbrei für ihre Gruppe in der Klosterküche besorgen und sich den Mundvorrat für den Tag aufladen, den sie entweder von den Klöstern erhielten oder unterwegs von den Bauern oder auf Märkten kauften.
Die meisten Mitglieder der Gruppe halfen ihr beim Tragen und bei manch anderen Arbeiten, doch Hermann und Robert nützten die Gelegenheit weidlich aus. Sie halsten Tilla nicht nur ihre eigenen Vorräte auf, sondern behandelten sie wie einen Dienstboten, über den man nach Belieben verfügen kann.
Tilla nahm es ohne Murren hin, denn Vater Thomas hatte ihr erklärt, dass sie bei der ersten Verfehlung die Gruppe würde verlassen müssen. Diese aber bot ihr nun nicht nur Schutz vor Räubern, sondern auch vor ihren Verfolgern. Zudem wusste sie nicht, ob sie es noch einmal wagen würde, bei einem anderen Pilgerzug um Aufnahme zu bitten.
Zu ihrer
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