Die Pilgerin
fließend Starrheim das fremde Idiom beherrschte, überlegte sie schon, ob sie den Grafen bitten sollte, ihr die notwendigsten Worte und Redewendungen beizubringen. Das wäre jedoch doppelt anstößig gewesen, denn zum einen zählte Starrheim nicht zu ihrer Gruppe, und zum anderen hielt er sie jetzt noch für einen jungen Mann und würde sie, sobald er über ihr wahres Geschlecht Bescheid wusste, für eine aufdringliche und alle guten Sitten missachtende Metze halten.
Betrübt, weil sie vor aller Welt ein falsches Spiel treiben musste, zog sie sich zurück und suchte sich einen Platz unter dem vorspringenden Dach der Herberge. Dort hüllte sie sich in ihre Pelerine und blickte zu den Sternen empor, die kalt und fern über ihr blinkten und sich nicht um die Sorgen und Nöte der Menschen scherten.
Tilla wusste nicht, welchen Teil des Weges nach Santiago sie bereits zurückgelegt hatte und welche Strecken noch vor ihr lagen. Ihr kam es jedenfalls so vor, als müsse sie in alle Ewigkeiten wandern, und sie fühlte sich so allein und so winzig, dass ihr die Tränen kamen. Mit einem Mal sehnte sie sich zurück nach Hause, doch ihr Elternhaus war ihr versperrt und im Haus ihres toten Ehemanns würde man sie so herzlich willkommen heißen wie eine Seuche.
Der Gedanke an Veit Gürtler brachte sie darauf, dass ihr monatlicher Blutfluss ausgeblieben war, und sie hoffte schwanger zu sein, auch wenn ihr die Reise in diesem Zustand gewiss nicht leicht fallen würde. Wenn es nicht anders ging, musste sie sich einige Wochen vor der Niederkunft einen sicheren Ort suchen, am besten ein Nonnenkloster, und dort so lange bleiben, bis das Kind und sie weiterziehen konnten. Für einige Augenblicke stellte sie sich vor, mit einem Sohn auf dem Arm nach Tremmlingen zurückzukehren. Niemand, nicht einmal ihr Bruder, würde ihr dann noch ihren Anteil an Gürtlers Erbe streitig machen können. Doch während sie sich vornahm, ihr Recht mit Hilfe der anderen Ratsherren durchzusetzen, erinnerte sie sich an die Umstände, unter denen ihr Vater gestorben war. Otfried würde eher dafür sorgen, dass sie und ihr Kind in einem Grab auf dem Friedhof endeten, als auch nur einen Pfennig von dem ihr rechtmäßig zustehenden Vermögen herauszugeben.
Tilla schüttelte sich bei dieser Vorstellung und sie empfand ihreEinsamkeit wie einen bitteren Schmerz. Es gab niemand, der ihr helfen konnte. Der alte Laux würde der Verworfenheit ihres Bruders niemals gewachsen sein, und was Damian anging, so hatte dieser sich nie für sie interessiert und würde ihretwegen gewiss keinen Streit mit Otfried beginnen.
Der Einzige, der noch versucht hatte, nach dem Tod ihres Mannes Kontakt mit ihr aufzunehmen, war Sebastian gewesen, und der hatte es viel zu ungeschickt angefangen. Seine Wortwechsel mit den Bewohnern des Gürtler -Hauses waren jedes Mal so laut gewesen, dass sie alles mitgehört hatte, und ein- oder zweimal hatte sie den jüngeren Laux-Sohn mit mürrischer Miene davonstapfen sehen.
Was mag er für ein Interesse an mir haben, fragte sie sich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Er wollte sich um sie kümmern und war ihr sogar gefolgt, um sie nach Santiago zu begleiten. Statt ihm dafür dankbar zu sein, hatte sie ihn verhöhnt und sich klammheimlich über das Ungeziefer gefreut, das er sich bei diesem unsauberen Mönch eingefangen hatte.
Lange hielt das Gefühl der Reue jedoch nicht an, denn Tilla schürzte die Lippen und sagte sich, dass Sebastian nur ein großer Junge war, der Dummheiten im Kopf hatte. Helfen konnte er ihr gewiss nicht.
XV.
Während Tilla ihren Gedanken nachhing, löschten die Mönche im Schlafsaal der Pilger die Öllampen bis auf zwei, deren Flammen gerade noch genug Licht spendeten, damit die Leute auf dem Weg zum Abtritt nicht über die Schläfer stolperten. Die meisten Gäste, die hier übernachteten, waren reichlich müde und sanken daher rasch in einen tiefen Schlaf.
Auch Vater Thomas schloss die Augen und spürte mit einem Gefühl der Dankbarkeit, wie er wegdämmerte. Da zupfte jemand an seinem Umhang, der ihm als Decke diente. Er blickte auf und konnte im trüben Licht zunächst nur einen Schatten ausmachen, der sich über ihn beugte.
»Verzeiht, ehrwürdiger Vater, aber ich würde gerne etwas fragen!« Es handelte sich um Hermann, dessen Stimme jetzt nicht mehr fordernd oder höhnisch klang, sondern beinahe wie die eines verängstigten Kindes.
»Was hast du auf dem Herzen, mein Sohn?« Vater Thomas richtete sich auf und
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