Die Pilgerin
Mönche an, doch die Antwort schien ihn nicht zu befriedigen. »Die beiden Lumpen sind seit gestern Abend nicht mehr gesehen worden. Das Letzte, das man von ihnen weiß, ist, dass sie den Saal verlassen haben. Doch ob sie wieder zurückgekommen sind, vermochte mir niemand zu sagen.«
»Irgendwo muss doch ihr Gepäck sein«, sagte Tilla und trat in den Schlafsaal. Die Klosterknechte und Mönche hatten die Schlafmatten bereits wieder eingesammelt, und nun wirkte der Raum wie leergefegt.
Bruder Thomas befragte erneut den Mönch, und als er sich wieder seiner Gruppe zuwandte, wirkte sein Gesicht hilflos. »Hermanns und Roberts Sachen sind nicht gefunden worden. Wenn nicht jemand sie gestohlen hat, müssen sie sie selbst mitgenommen haben.«
»Aber wohin mögen sie gegangen sein?«, rief Renata aus.
»Das weiß nur Gott allein und vielleicht noch der heilige Jakobus, der ihnen kräftig in den Hintern treten soll. Was sind das nur für Kerle, die wie greinende Kinder davonlaufen, nur weil sie Angst vor dem nächsten Schritt haben!« Für einen Augenblick vergaß Vater Thomas ganz, was er seinem geistlichen Amt schuldig war, und redete so derb wie ein Ochsentreiber.
»Ihr glaubt, sie hätten uns verlassen und sich auf den Heimweg gemacht, weil sie Angst vor der Ferne haben?« Ambros tippte sich an die Stirn.
Dieter und Manfred schüttelten verwirrt die Köpfe, während der kleine und stets in sich gekehrte Peter die Hände faltete und die Muttergottes um Hilfe bat. Sepp, dem Tilla bis jetzt ausdem Weg gegangen war, fluchte wüst. Ihm war anzusehen, dass er den Verschwundenen am liebsten folgen und sich ihnen anschließen würde, doch der Bischof von Eichstätt, der für seinen Heimatort zuständig war, hatte ihn zu dieser Pilgerfahrt verurteilt, und ohne die Bestätigung der frommen Brüder zu Santiago würde er sein früheres Leben nicht wieder aufnehmen können, sondern sich dem unehrlichen Volk oder gar den Landfahrern anschließen müssen.
Inzwischen hatte Tilla gehört, Sepp habe seine Ehefrau weit über das gestattete Maß hinaus verprügelt und dabei fast zum Krüppel geschlagen. Dieser Mann war nicht gerade der Weggefährte, den sie sich wünschte, doch Vater Thomas hatte ihn in seine Gruppe aufgenommen und daher musste sie mit ihm zurechtkommen.
»Was geschieht nun mit uns armen Weibern?« Annas Stimme steigerte sich zu einem schmerzhaften Diskant. Mit schriller Stimme teilte sie den anderen mit, dass ihr Neffe das für die Wallfahrt vorgesehene Reisegeld verwaltet und nun mitgenommen hatte.
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns bettelnd nach Hause durchzuschlagen«, brach es zugleich mit einem Tränenstrom aus ihr heraus.
Renata, die Ruhigere der Zwillingsschwestern, schüttelte energisch den Kopf. »Es ist Gottes Wille, dass es so gekommen ist. Er legt uns diese Bürde auf für unsere Sünden und die Sünden unserer verstorbenen Ehemänner. Du weißt, von was ich spreche?« Ein scharfer Blick traf die Schwester, die sofort den Kopf senkte und noch mehr weinte.
»Du hast Recht, Renata! Wir haben gefehlt und unsere Männer mit uns. Jetzt müssen wir die Strafe dafür ertragen.«
»Du sagst es! Sollen wir jetzt bettelnd nach Hause ziehen, ohneAussicht auf Vergebung unserer Sünden? Sollen wir die Seelen unserer Männer dem Fegefeuer oder gar der Höllenpein anheim geben? Ist es da nicht besser, auf den Edelmut der Menschen zu hoffen und das Grab des heiligen Apostels aufzusuchen? Mir fällt die Entscheidung nicht schwer. Auch wenn der ehrwürdige Vater Thomas uns wegen der Treulosigkeit unseres Neffen und seines Freundes aus seiner Schar weisen sollte: Ich werde nach Santiago ziehen.«
»Und ich auch!« Anna umarmte ihre Schwester und starrte den Pilgerführer dabei ängstlich an.
Bevor Vater Thomas etwas sagen konnte, trat Sebastian vor. »Wenn Ihr erlaubt, ehrwürdiger Vater, so will ich mich der beiden Frauen annehmen und für sie sorgen, als wären es meine eigenen Verwandten!« Sebastian hatte die Gelegenheit erkannt, sich der Gruppe anzudienen und sich unverzichtbar zu machen, so dass Tilla ihn auf ihrem weiteren Weg als Gefährten anerkennen musste. Außerdem empfand er Mitleid mit den beiden Witwen, die schwer von ihrer Schuld geplagt wurden. Da sein Vater ihn ausreichend mit Geld versorgt hatte, fiele es ihm leicht, die nötigen Ausgaben für sie zu tätigen, zumal sie ihr Essen zum großen Teil um Gottes Lohn in Klöstern und Pilgerhospizen erhielten. Er blickte den Pilgerführer
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