Die Pilgerin
legte die Hand auf die Schulter des jungen Mannes.
»Nun, es ist so …« Hermann wischte sich mit der rechten Hand so heftig über das Gesicht, als müsse er seine Gedanken einfangen. Er fasste sich jedoch rasch wieder und sah seinen Pilgerführer durchdringend an. »Die Leute hier reden so ganz anders als zu Hause. Man kann sie gar nicht mehr verstehen. Das wird doch sicher wieder anders werden, nicht wahr?«
Vater Thomas schüttelte lächelnd den Kopf. »Bedrücken dich die fremden Laute? Das sollten sie nicht, denn wir wandeln auf den Spuren vieler frommer Pilger, die bereits am Grabe des heiligen Apostels gebetet haben. Denke nicht an die Sprachen, die du unterwegs hören wirst, ohne sie zu verstehen, sondern schreite wacker aus und empfehle deine Seele dem heiligen Jakobus. Er wird dir auf deinem weiteren Weg beistehen.«
Hermann schüttelte sich wie im Fieber. »Heißt das, wir werden noch fremdere Sprachen hören und durch viele Lande ziehen, in denen uns keiner versteht?«
»Unterwegs werden wir immer wieder auf Leute treffen, mit denen wir uns verständigen können, seien es Pilger oderMönche, die sich dem Dienst an uns Wallfahrern verschrieben haben. Mit anderen Priestern und gelehrten Mönchen vermag ich mich auf Latein zu unterhalten, so dass wir in Frieden ziehen können.«
Vater Thomas hoffte, den jungen Burschen damit beruhigt zu haben, doch der krallte seine Rechte so fest in seinen Arm, dass es schmerzte. »Wie viele fremde Sprachen werden wir hören, bevor wir unser Ziel erreichen?«
Der Pilgerführer befreite sich aus Hermanns Griff und schob ihn ein Stück zurück. »Wir sind jetzt in einer Gegend, in der die Leute die Sprache der Franzosen sprechen. Schon bald werden wir Lande erreichen, in denen die okzitanische Sprache vorherrscht, danach Katalonien streifen, anschließend durch das Herzogtum Gascogne ziehen, deren Sprache dem Okzitanischen gleicht, Navarra und die baskischen Provinzen durchqueren und über Kastilien schließlich Galicien erreichen, in dem uns das Grab des Apostels erwartet.«
»Und in jedem Land spricht man anders?« Hermann hörte sich so entsetzt an, als führe der Weg der Pilger geradewegs zu den Heiden oder gar in die Hölle.
»Ich sagte dir doch, dass auch du ohne Probleme weiterkommen wirst, solange ich bei der Gruppe bin, und sollte es Gott dem Herrn gefallen, mich von euch zu trennen, so wird ein anderer Pilgerführer deutscher Zunge sich eurer annehmen. Doch nun lege dich nieder, mein Sohn, und schlafe. Unser Weg ist noch lang und du solltest deine Kraft nicht mit solchen Gedanken vergeuden.«
»Habt Dank, ehrwürdiger Vater!« Hermann zog sich wieder zurück, doch anstatt sich nun hinzulegen und zu schlafen, setzte er sich neben Robert und redete leise auf ihn ein. Einige Schläfer schreckten hoch und begannen zu schimpfen. Daher winkte er seinem Freund, mit ihm vor die Tür des Schlafsaals zu gehen. Robert stand auf, raffte ebenso wie Hermann seine Sachen zusammen und folgte ihm.
XVI.
Am nächsten Morgen dauerte es eine Weile, bis man die beiden Männer vermisste. Tilla, die von einem Regenschauer geweckt worden war, den der Wind bis unter das Vordach getrieben hatte, half den Mönchen, das Brot und die Morgensuppe zu verteilen. Noch ganz in ihren Gedanken und den Albträumen versunken, die sie in der Nacht gequält hatten, achtete sie zunächst nicht auf die Zahl ihrer Begleiter. Erst als Anna sie fragte, ob sie ihren Neffen gesehen hätte, wurde sie aufmerksam und warf einen forschenden Blick über die versammelten Pilger. Doch sie konnte weder Hermann noch Robert ausmachen.
»Vielleicht sind sie zum Abtritt gegangen«, antwortete sie und vergaß die beiden wieder.
Vater Thomas hingegen zog die Stirn in Falten. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Hermann und an dessen fast panische Angst vor der Fremde. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass Annas Neffe und sein Freund die Gruppe verlassen haben könnten.
Immer mehr Pilger beendeten das Frühstück und machten sich auf den Weg; die einen wanderten nach Südwesten, wo das ferne Ziel Santiago lag, oder auch zu näher gelegenen Wallfahrtsorten, während andere mit meist fröhlichen Mienen der Heimat entgegeneilten. Auch Vater Thomas sammelte seine Gruppe um sich, und nun wurde das Verschwinden der beiden jungen Männeroffenbar. Im ersten Schreck klammerten Anna und Renata sich aneinander und schauten sich so hilflos um wie Schafe, die ihre Lämmer vermissen.
Vater Thomas sprach einen der
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