Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
nicht an Farbe. Nur dein Name hat keine Farbe. Wir haben dich nur zum Spaß damit aufgezogen. Das hatte keine Bedeutung. Du bist der wunderbare farbenfrohe Tsukuru Tazaki. Und du baust unermüdlich die besten Bahnhöfe. Du bist ein gesunder sechsunddreißigjähriger Bürger, hast Wahlrecht, zahlst deine Steuern und bist ganz allein in ein Flugzeug gestiegen und nach Finnland geflogen, um mich zu sehen. Dir fehlt gar nichts. Hab Mut und Selbstvertrauen. Das ist alles, was du brauchst. Verlier den Menschen, den du liebst, nicht aus Angst und törichtem Stolz.«
Tsukuru legte den ersten Gang ein und trat aufs Gas. Er steckte die Hand durch das offene Fenster und winkte. Auch Eri winkte noch lange mit hoch erhobenem Arm.
Bald war sie zwischen den Bäumen verschwunden. Im Rückspiegel war nur noch das tiefe Grün des finnischen Sommers zu sehen. Der Wind hatte aufgefrischt, und auf dem See bildeten sich hier und da kleine Schaumkronen. Ein großer junger Mann paddelte in einem Kajak langsam und lautlos wie ein großer Wasserkäfer vorbei.
Wahrscheinlich würde er nie wieder hierherkommen. Vielleicht würde er auch Eri nie wiedersehen. Jeder von ihnen führte ein eigenes Leben an dem ihm bestimmten Ort. Ao hatte recht: Es gab kein Zurück. Bei diesem Gedanken erhob sich irgendwo die Traurigkeit und überflutete ihn lautlos wie Wasser. Es war eine transparente, gestaltlose Traurigkeit, seine eigene Traurigkeit, die jedoch zugleich unerreichbar fern war. Ein bohrender Schmerz in seiner Brust nahm ihm den Atem.
Als der Asphalt begann, hielt er auf dem Seitenstreifen an, stellte den Motor ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen das Lenkrad. Er musste eine ganze Weile tief ein- und ausatmen, um sich zu beruhigen. Plötzlich bemerkte er, dass sich unweit seines Herzens etwas Kaltes, Hartes befand – etwas wie ein Klumpen hart gefrorener Erde, der über die Jahre nie geschmolzen war. Er war es, der den Schmerz in seiner Brust und seine Atemnot hervorrief. Bisher hatte er nicht gewusst, dass er so etwas in sich trug.
Aber der Schmerz in seiner Brust und seine Atemnot waren notwendig. Er musste sie spüren. Und von nun an musste er versuchen, diesen eisigen Kern nach und nach zum Schmelzen zu bringen. Vielleicht würde es sehr lange dauern. Aber er musste es schaffen. Und um diesen eisigen Erdklumpen zu schmelzen, brauchte Tsukuru die Wärme eines anderen Menschen. Seine eigene Körperwärme reichte dazu nicht aus.
Zunächst würde er nach Tokio zurückkehren. Das war der erste Schritt. Er ließ den Motor wieder an.
Er hoffte von ganzem Herzen, dass er auf dem Rückweg nach Helsinki nicht von Eris bösen Kobolden im Wald geschnappt werden würde. Mehr als hoffen konnte er im Augenblick nicht.
18
Die verbleibenden beiden Tage verbrachte Tsukuru damit, durch Helsinkis Straßen zu streifen. Mitunter nieselte es, aber nie regnete es so stark, dass es ihn behinderte. Beim Gehen dachte er nach. Es gab so vieles, über das er nachdenken musste. Vor seiner Rückkehr nach Tokio wollte er, so gut es ging, Ordnung in seine Gefühle bringen. Wenn er es müde wurde zu gehen und zu denken, setzte er sich in ein Café, trank einen Kaffee und aß ein Sandwich. Mitunter verlief er sich und wusste nicht mehr, wo er war, aber das störte ihn nicht. Helsinki war keine große Stadt, und überall fuhren Straßenbahnen. Außerdem war es ihm in gewisser Weise sogar angenehm, sich zu verlieren. An seinem letzten Nachmittag ging er zum Hauptbahnhof, setzte sich auf eine Bank und vertrieb sich die Zeit damit, die ankommenden und abfahrenden Züge zu beobachten.
Von dort aus rief er auch Olga an, um sich bei ihr zu bedanken. Er habe das Haus der Familie Haatainen gefunden und seine Freundin überraschen können. Außerdem sei Hämeenlinna ein ausgesprochen hübscher Ort.
»Wunderbar, das freut mich.« Sie schien sich wirklich zu freuen.
Sollte sie Zeit und Lust haben, würde er sie gern zum Abendessen einladen, sagte Tsukuru. Sonst gern, aber heute habe ihre Mutter Geburtstag und sie werde bei ihren Eltern essen, antwortete Olga. Er möge doch bitte Sara von ihr grüßen. Das werde er tun, und nochmals vielen Dank für alles, sagte Tsukuru.
Gegen Abend aß Tsukuru ein Fischgericht in einem Restaurant am Hafen, das Olga ihm empfohlen hatte, und trank ein halbes Glas kalten Chablis dazu. Er dachte an die Familie Haatainen, die jetzt bestimmt auch zu Hause an ihrem Tisch saß und zu Abend aß. Ob der Wind noch über den See wehte? Was Eri
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