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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Stirn. Warum musste er sich solchen Blödsinn vorstellen? Warum hätte er Yuzu erdrosseln sollen?
    Dafür hätte es keinen Grund gegeben. Noch nie war Tsukuru der Gedanke gekommen, jemanden zu töten. Aber vielleicht hatte er Yuzu symbolisch töten wollen. Er hatte ja keine Ahnung, welche dunklen Abgründe in seinem Inneren lauerten. Er wusste, dass es auch in Yuzus Herzen dunkle Abgründe gegeben hatte. Vielleicht waren sie einander irgendwo in dieser unterirdischen Finsternis begegnet. Und er hatte sie erwürgt, weil sie es gewollt hatte. Vielleicht hatte er ihr Verlangen in ihrer gemeinsamen Dunkelheit vernommen.
    »Du denkst an Yuzu, oder?«, sagte Eri.
    »Die ganze Zeit über habe ich mich als Opfer gesehen. Immer gedacht, mir wäre grundlos grausames Unrecht widerfahren. Dass ich deshalb eine tiefe Wunde in mir trüge und diese Wunde den eigentlichen Verlauf meines Lebens zerstört hätte. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich euch manchmal gehasst. Mich gefragt, warum ich als Einziger so leiden musste. Aber vielleicht war das gar nicht so. Ich bin ein Opfer, das stimmt, aber zugleich habe ich auch, ohne es zu wissen, die Menschen in meiner Umgebung verletzt. Und damit die Klinge gegen mich selbst gekehrt.«
    Eri sah ihn wortlos an.
    »Und vielleicht habe ich Yuzu getötet«, sagte Tsukuru freimütig. »Vielleicht war ich es, der in jener Nacht an ihre Tür geklopft hat.«
    »In gewissem Sinne«, sagte Eri.
    Tsukuru nickte.
    »In gewissem Sinne habe auch ich Yuzu getötet«, sagte Eri und blickte zur Seite. »Vielleicht habe ich in jener Nacht an ihre Tür geklopft.«
    Tsukuru betrachtete ihr schönes sonnengebräuntes Profil. Er hatte ihre leicht nach oben zeigende Nase schon immer gemocht.
    »Wir tragen beide an der Last dieses Gedankens«, sagte Eri.
    Der Wind hatte sich gelegt, und die weißen Gardinen hingen still. Auch das Boot klapperte nicht mehr. Nur das Zwitschern der Vögel war zu hören. Tsukuru war, als sängen sie auf eine Weise, wie er es noch nie gehört hatte.
    Auch Eri lauschte eine Weile dem Gesang der Vögel. Sie nahm ihre Haarspange und steckte ihre Haare wieder fest. Sacht berührte sie mit den Fingerspitzen ihre Stirn.
    »Was hältst du von Akas beruflichen Ambitionen?«, fragte sie. Die Zeit floss ein wenig leichter dahin, als hätte man ihr etwas von ihrer Last abgenommen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Tsukuru. »Seine Welt ist zu weit weg von meiner. Deshalb kann ich nicht beurteilen, ob das, was er macht, richtig ist oder nicht.«
    »Mir gefällt überhaupt nicht, was er macht. Aber deswegen werde ich ihm nicht die Freundschaft aufkündigen. Er war immer einer meiner besten Freunde. Und er bleibt mein Freund, obwohl ich ihn schon seit sieben oder acht Jahren nicht gesehen habe.«
    Sie legte wieder die Hand an die Stirn.
    »Wusstest du, dass Aka dem katholischen Zentrum jedes Jahr eine ansehnliche Summe spendet, damit die Sommerschule erhalten bleibt? Natürlich ist die Einrichtung ihm sehr dankbar. Sie hatten ja immer finanzielle Schwierigkeiten. Niemand weiß etwas von diesen Spenden. Denn Aka besteht darauf, anonym zu bleiben. Die Einzige, die außer den Zuständigen davon weiß, bin wohl ich. Und ich habe nur ganz zufällig davon erfahren. Aka ist wirklich kein schlechter Mensch. Er tut nur so. Warum, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich kann er nicht anders.«
    Tsukuru nickte.
    »Das Gleiche gilt für Ao«, sagte Eri. »Ich weiß, dass er noch immer ein reines Herz hat. Aber es ist nicht leicht, in dieser Welt zu überleben. Jeder hat auf seine Weise einiges geleistet. Sie haben sich bemüht und verdienen Respekt. Weißt du, Tsukuru, ich glaube, das alles ist nicht umsonst passiert. Wir waren so eng verbunden. Auch wenn es nur ein paar Jahre waren.«
    Wieder barg Eri das Gesicht für einen Moment in den Händen und schwieg. »Wir haben überlebt«, fuhr sie fort. »Du und ich. Als Überlebende haben wir die Pflicht, weiter zu überleben, so gut wir können. Auch wenn vieles, was wir tun, unvollkommen ist.«
    »Das Einzige, was ich tun kann, ist Bahnhöfe bauen.«
    »Das genügt. Mach weiter damit. Du musst gut durchdachte, sichere und zweckmäßige Bahnhöfe bauen, in denen die, die sie benutzen, sich wohlfühlen.«
    »Das ist mein Ziel«, sagte Tsukuru. »Eigentlich gehört sich das nicht, aber ich hinterlasse immer meinen Namen in einem Winkel des Bahnhofs, an dem ich arbeite. Ich ritze ihn an einer nicht sichtbaren Stelle mit einem Nagel in den frischen Beton. Tsukuru Tazaki.«
    Eri

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