Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
dürr wie die eines Storchs. Ich habe einen Körper wie ein alter Mann, dachte er, als er sich nach längerer Zeit einmal wieder nackt vor den Spiegel stellte. Oder sogar wie ein Sterbender.
Dann sah er eben so aus, es war nicht zu ändern, sagte er sich, als er vor dem Spiegel stand. Vielleicht lag es ja daran, dass er wirklich dem Tod geweiht war. Er hing gerade noch an der Welt wie die trockene Hülle eines Insekts, die an einem Ast schaukelt und kurz davor ist, vom nächsten Windstoß für immer davongeweht zu werden. Dass er aussah wie ein Todgeweihter, versetzte Tsukuru einen Stoß. Und er betrachtete unaufhörlich sein nacktes Spiegelbild. Wie jemand, der seine Augen nicht von einem Fernsehschirm losreißen kann, auf dem die Nachrichten schreckliche Bilder von einem schweren Erdbeben oder einer katastrophalen Überschwemmung in einem fernen Land übermitteln.
Vielleicht bin ich ja wirklich gestorben, dachte Tsukuru plötzlich. Seit seine Freunde sich im vergangenen Sommer von ihm losgesagt hatten, gab es den Jungen nicht mehr, der Tsukuru Tazaki einmal gewesen war. Er hatte zwar, wenn auch nur gerade eben, seine äußere Erscheinung bewahrt, aber er war nach diesem halben Jahr kaum wiederzuerkennen. Seine Statur und sein Gesicht hatten sich ebenso wie seine Wahrnehmung radikal verwandelt. Wie Wind wehte, wie Wasser rauschte, wie Licht durch die Wolken fiel, ja sogar die Farben der jahreszeitlichen Blumen – alles war anders als früher. Eigentlich sogar völlig neu. Das Bild, das er im Spiegel sah, schien auf den ersten Blick Tsukuru Tazaki zu entsprechen, doch er war es nicht. Es war nicht mehr als eine notdürftige Hülle mit anderem Inhalt. Dass er sich noch bei seinem Namen nannte, lag nur daran, dass er im Moment keinen anderen hatte.
In dieser Nacht hatte Tsukuru einen seltsamen Traum, in dem heftige Eifersucht ihn quälte. Er hatte schon lange nicht mehr so realistisch geträumt. Tatsächliche Eifersucht oder Missgunst hatte Tsukuru bisher nicht gekannt. Natürlich wusste er theoretisch, wie diese Gefühle entstanden. Zum Beispiel, wenn jemand eine Begabung, eine Fähigkeit oder Stellung besaß, die ihm (scheinbar) einfach zugefallen war und die man selbst nie sein Eigen nennen würde. Oder man erfuhr, dass ein anderer Mann eine Frau erobert hatte, in die man selbst leidenschaftlich verliebt war. Eifersucht war Neid, Reue, Frustration, für die es kein Ventil gab, und Zorn.
Doch Tsukuru hatte dieses Gefühl noch nie erlebt. Nie hatte er ernsthaft Talente oder Eigenschaften begehrt, die er nicht hatte, und leidenschaftlich verliebt war er auch noch nie gewesen. Noch nie hatte er sich nach jemandem verzehrt und noch nie jemanden beneidet. Nicht, dass er nie unzufrieden mit sich war. Oder dass ihm nie etwas fehlte. Er hatte eine Liste von Wünschen. Sie war vielleicht nicht lang, aber zwei oder drei Zeilen umfasste sie doch. Aber damit war keine Unzufriedenheit oder Frustration verbunden. Es waren keine Dinge, die er sich so sehr wünschte, dass er keine Mühe gescheut hätte, sie zu bekommen. Zumindest war es bisher nie so gewesen.
Doch in diesem Traum begehrte er eine Frau mit nie gekannter Leidenschaft. Es war nicht klar, um wen es sich handelte. Es gab sie einfach. Und sie hatte die besondere Fähigkeit, ihren Körper und ihr Herz voneinander trennen zu können. Ich kann dir eines von beidem überlassen, sagte sie zu ihm. Entweder meinen Körper oder mein Herz. Aber beides kann ich dir nicht geben. Also möchte ich, dass du dich jetzt für eines entscheidest, denn das andere werde ich einem anderen geben, sagte die Frau. Aber Tsukuru wollte die ganze Frau. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, eine Hälfte von ihr einem anderen Mann zu überlassen. Dann will ich lieber gar nichts, wollte er sagen. Doch er war nicht imstande dazu, er konnte weder vor noch zurück.
In diesem Moment verspürte Tsukuru einen brennenden Schmerz, als würde sein ganzer Körper von gewaltigen Händen ausgewrungen. Sein Fleisch und seine Muskeln rissen, seine Knochen krachten. Er verspürte einen so heftigen Durst, als wären seine sämtlichen Zellen verdorrt. Er zitterte am ganzen Körper vor Zorn. Vor Zorn darüber, dass er die Hälfte der Frau einem anderen überlassen musste. Der Zorn wurde zu einer Masse, die zähflüssig aus dem Mark seines Körpers herausgequetscht wurde. Seine Lungen pfiffen wie rasende Blasebälge, sein Herz beschleunigte wie ein Motor, wenn man das Gaspedal bis zum Boden durchtritt, und
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