Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
pumpte sein Blut brodelnd bis in die entlegensten Winkel seines Körpers.
    Am ganzen Körper schlotternd erwachte er. Es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er geträumt hatte. Er zog seinen schweißgetränkten Pyjama aus und rieb sich mit einem Handtuch ab. Doch es half nichts, das glitschig-feuchte Gefühl blieb. Dann wusste er es. Oder spürte zumindest instinktiv, dass dieses Gefühl Eifersucht war. Jemand hatte versucht, ihm das Herz oder den Körper einer geliebten Frau zu entreißen. Oder sogar beides.
    Eifersucht war – das hatte Tsukuru durch diesen Traum begriffen – das trostloseste Gefängnis, das es auf der Welt gab. Denn es war ein Gefängnis, in das der Gefangene sich gewissermaßen selbst einsperrte. Niemand zwang ihn dazu. Er ging aus freien Stücken hinein, schloss von innen ab und warf den Schlüssel durch das Gitter nach draußen. Und niemand auf der ganzen Welt wusste, dass er dort eingekerkert war. Nur wenn er sich selbst dazu entschloss, konnte er es verlassen. Denn das Gefängnis befand sich in seinem Inneren. Doch er war außerstande, diesen Entschluss zu fassen. Sein Herz war von einer unüberwindlichen Mauer umgeben. Das war die wahre Natur der Eifersucht.
    Tsukuru nahm sich Orangensaft aus dem Kühlschrank und trank mehrere Gläser. Seine Kehle war völlig ausgedörrt. Dann setzte er sich an den Tisch und schaute auf das allmählich heller werdende Fenster, während er seinen Körper und seine Seele, die noch unter dem Ansturm der erlebten Gefühle bebten, zur Ruhe kommen ließ. Was dieser Traum wohl bedeutete? War er so etwas wie eine Vorahnung? Oder eine symbolische Botschaft? Was wollte er ihm sagen? Oder versuchte vielleicht sein wahres Ich, das nicht einmal er selbst kannte, aus seiner Hülle hervorzubrechen? Vielleicht wollte irgendein hässliches Wesen ausschlüpfen, unbedingt nach draußen an die Luft gelangen?
    Es wurde ihm erst später bewusst, aber just in diesem Moment hörte Tsukuru Tazaki auf, sich den Tod herbeizusehnen. Er betrachtete seinen nackten Körper im Spiegel und erkannte, dass es nicht seine Gestalt war, die er reflektierte. In jenem Traum hatte er zum ersten Mal das Gefühl der Eifersucht (oder was er dafür hielt) erlebt. Und als es Morgen wurde, hatte er die düsteren sechs Monate, in denen er unablässig seiner Auslöschung durch den Tod ins Gesicht geblickt hatte, bereits hinter sich gelassen.
    Vielleicht hatte der brennende Schmerz, den er im Traum durchlebte, ein Gegengewicht zu der Todessehnsucht gebildet, die ihn bis dahin unablässig beherrscht hatte, und sie getilgt. Wie ein starker Westwind dichte Wolken vom Himmel fegt. Ja, so könnte es gewesen sein, vermutete Tsukuru.
    Zurück blieb ein Gefühl der Ruhe, eine Art Resignation, farblos und neutral wie eine Windstille. Er saß allein in einem leeren alten Haus und lauschte einer großen antiken Standuhr, die mit dumpfen Schlägen verkündete, wie die Zeit verstrich. Stumm und ohne den Blick abzuwenden, beobachtete er das Vorrücken der Zeiger. Seine Empfindungen eingeschlossen in der Leere seines Herzens, umhüllt von mehreren Schichten dünner Haut, wurde er Stunde um Stunde unaufhaltsam älter.
    Tsukuru Tazaki begann wieder richtige Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Er kaufte frische Lebensmittel und kochte sich einfache Gerichte. Dennoch erlangte er nur einen kleinen Teil des verlorenen Körpergewichts zurück. Anscheinend war sein Magen in dem halben Jahr zu sehr geschrumpft. Sobald er mehr als eine bestimmte Menge an Nahrung zu sich nahm, übergab er sich. Er ging wieder frühmorgens in das Schwimmbad der Universität. Seine Muskulatur war ebenfalls so geschrumpft, dass er außer Puste geriet, wenn er eine Treppe hinaufstieg, und er musste ihren ursprünglichen Zustand zumindest halbwegs wiederherstellen. Er kaufte sich eine neue Badehose und eine neue Schwimmbrille und kraulte jeden Tag zwischen tausend und tausendfünfhundert Metern. Anschließend ging er in den Fitnessraum und trainierte schweigsam an den Geräten.
    Nach mehreren Monaten besserer Ernährung und regelmäßiger Bewegung hatte Tsukuru Tazakis Leben wieder einen einigermaßen gesunden Rhythmus. Er besaß die notwendige Muskulatur (auch wenn ihr Aufbau völlig anders war als früher), sein Rücken war gerade, und er hatte wieder ein wenig Farbe im Gesicht. Und morgens beim Aufwachen sogar eine Erektion.
    In dieser Zeit kam seine Mutter zu einem ihrer seltenen Besuche nach Tokio. Vielleicht machte sie sich Sorgen und wollte

Weitere Kostenlose Bücher