Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
nach dem Rechten sehen, weil Tsukuru sich in letzter Zeit so sonderbar benahm und nicht einmal zu Neujahr nach Hause gekommen war. Angesichts der auffälligen körperlichen Veränderungen, die ihr Sohn in den wenigen Monaten durchlaufen hatte, musste sie unwillkürlich schlucken. Dennoch akzeptierte sie Tsukurus Erklärung, dass es sich nur um einen seinem Alter entsprechenden, natürlichen Vorgang handele und er lediglich ein paar neue Kleidungsstücke brauche, die ihm passten. Anscheinend gehörte so etwas wohl zum normalen Wachstum bei einem Jungen. Sie war in einer Familie von Töchtern aufgewachsen und hatte nach ihrer Hochzeit zunächst selbst zwei Töchter bekommen. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit heranwachsenden Jungen. Gern begleitete sie ihren Sohn in ein Kaufhaus und stattete ihn mit neuer Garderobe aus. Die Marken Brooks Brothers und Pro trafen genau ihren Geschmack. Die alte Kleidung spendete sie oder warf sie weg.
Auch Tsukurus Gesichtszüge hatten sich verändert. Aus dem Spiegel blickte ihm nicht mehr das weiche, merkmalslose Gesicht eines Kindes entgegen, sondern die markante und kantige Physiognomie eines jungen Mannes. In seinen Augen war ein neues Licht. Ein Licht, das er selbst dort noch nie gesehen hatte. Ein einsames Licht, das dort leuchtete, ohne jemals ein Ziel zu finden. Plötzlich hatte er einen stärkeren Bartwuchs und musste sich jeden Morgen rasieren. Er beschloss, sich die Haare länger wachsen zu lassen als früher.
Sein neues Aussehen gefiel Tsukuru nicht besonders, aber er hatte auch nichts dagegen. Es war nicht mehr eine vorübergehende, behelfsmäßige Maske. Immerhin war er froh, sein früheres Gesicht abgelegt zu haben. Der Junge namens Tsukuru Tazaki war jedenfalls gestorben. Er hatte sein Leben ausgehaucht, um in einer weglosen Finsternis zu verschwinden, und war auf einer kleinen Waldlichtung begraben. Heimlich und still im Morgengrauen, als die Menschen noch in tiefem Schlaf lagen. Ohne Grabstein. Der Mann, der jetzt hier stand und atmete, war ein neuer, völlig anderer Tsukuru Tazaki. Doch niemand außer ihm wusste davon. Und er hatte nicht die Absicht, es jemandem mitzuteilen.
Tsukuru klapperte weiter alle möglichen Bahnhöfe ab, skizzierte die Anlagen und versäumte niemals eine Vorlesung. Morgens duschte er und wusch sich die Haare. Nach dem Essen putzte er sich die Zähne. Er machte jeden Morgen sein Bett und bügelte seine Hemden. Er bemühte sich, möglichst wenig Freizeit zu haben. Abends las er ungefähr zwei Stunden. Meist irgendetwas über Geschichte oder eine Biografie. Dies war eine Gewohnheit, die er sich schon früher angeeignet hatte. Überhaupt waren es Gewohnheiten, die ihm halfen, sein Leben fortzuführen. Aber er glaubte nicht mehr an die vollkommene Gemeinschaft, und er spürte auch nicht die Wärme der richtigen Chemie.
Jeden Tag stellte er sich vor den Badezimmerspiegel und betrachtete eine Weile sein Gesicht. Und nach und nach gewöhnte er sich an sein neues, verändertes Ich. Wie man eine neue Sprache lernt und sich ihre Regeln aneignet.
Bald fand Tsukuru einen neuen Freund. Es war im Juni, fast ein Jahr nachdem er von seinen vier Freunden in Nagoya verlassen worden war. Der andere war zwei Jahre jünger als Tsukuru und studierte an derselben Universität. Sie lernten sich im Schwimmbad kennen.
4
Wie Tsukuru kam der Mann jeden Morgen allein ins Schwimmbad, um zu schwimmen. Bald erkannten die beiden sich und wechselten mitunter ein paar Worte in der Umkleidekabine. Manchmal frühstückten sie anschließend zusammen in der Cafeteria. Er war zwei Jahre jünger als Tsukuru Tazaki und studierte Physik. Doch obwohl sie dieselbe Technische Hochschule besuchten, schienen die Studenten vom Fachbereich Physik einem völlig anderen Menschenschlag anzugehören als die, die Ingenieurwesen studierten.
»Was ist eigentlich dein Schwerpunkt beim Ingenieurwesen?«, wollte der andere wissen.
»Bahnhof.«
»Bahnhof?«
»Nicht wie in ›Ich verstehe nur Bahnhof‹, sondern richtige Bahnhöfe für die Eisenbahn.«
»Aber gibt es die nicht schon?«
»Bahnhöfe werden immer gebraucht«, gab Tsukuru einfach zurück.
»Interessant«, sagte der andere sichtlich erstaunt. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Aber du benutzt doch Bahnhöfe. Sonst könntest du ja nicht mit der Bahn fahren.«
»Ja schon, natürlich muss es die geben, aber mir ist noch nie der Gedanke gekommen, dass es tatsächlich Menschen auf der Welt geben könnte, die
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