Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
sonderbaren Gefühl beherrscht gewesen, dass seine Wahrnehmung und seine Konstitution sich verwandelt hatten. Die Farben der Dinge wirkten wie von einem Filter gedämpft. Er hörte Geräusche, die er bis dahin nicht gehört hatte, und andere, die er eigentlich hätte hören sollen, nahm er nicht wahr. Die Bewegungen seines Körpers waren steif und ungelenk. Die gesamte Schwerkraft um ihn herum schien sich verändert zu haben.
Die kommenden sechs Monate in Tokio verbrachte Tsukuru an der Schwelle des Todes. Er hatte sich am Rand seines bodenlosen schwarzen Abgrunds eine bescheidene Heimstatt errichtet und fristete dort sein einsames Dasein. Es war ein gefährlicher Ort, denn hätte er sich im Schlaf nur einmal umgedreht, er wäre ins Nichts gerollt. Dennoch verspürte er keine Furcht. Er wunderte sich nur, wie leicht es war zu fallen.
Die Landschaft um ihn herum war, soweit sein Auge reichte, von schroffen Felsen übersät. Nirgendwo ein Tropfen Wasser, nirgendwo ein Grashalm. Keine Farben und auch kein richtiges Licht. Keine Sonne, kein Mond und keine Sterne. Wahrscheinlich auch keine Himmelsrichtungen. Zu bestimmten Zeiten wechselten dämmriges Zwielicht und bodenlose Dunkelheit einander ab. Die äußerste Grenze für ein Wesen mit Bewusstsein. Doch zugleich war es auch ein Ort der Fülle. In der Dämmerung kamen Vögel mit messerscharfen Schnäbeln und rissen erbarmungslos Stücke aus seinem Fleisch. Doch sobald die Dunkelheit sich herniedersenkte und die Vögel fort waren, füllten sich die hohlen Ausbuchtungen an seinem Körper lautlos mit einer anderen Substanz wieder auf.
Tsukuru wusste weder, was da neu hinzugefügt wurde, noch, woraus es bestand. Er konnte weder zustimmen noch sich verweigern. Scharen von Schatten ließen sich auf seinen Körper nieder und legten dort zahllose Schatteneier ab. Wenn dann die Dunkelheit schwand und die Dämmerung zurückkehrte, kamen auch die Vögel wieder und rissen das Fleisch von seinem Körper.
Damals war er nicht er selbst, obgleich er es doch war. Er war Tsukuru Tazaki und war es auch wieder nicht. Hielt er die Schmerzen nicht mehr aus, löste er sich aus seinem Körper und beobachtete aus einer Warte der Schmerzlosigkeit, wie Tsukuru Tazaki Schmerzen erduldete. Wenn er sich nur stark genug konzentrierte, schaffte er es.
Auch jetzt noch überkam ihn in gewissen Situationen plötzlich das Gefühl, sich von sich selbst zu lösen. Als ein anderer seinen Schmerz zu beobachten.
Als sie die Bar verließen, fragte Tsukuru Sara noch einmal, ob sie in der Nähe eine Kleinigkeit essen wollten. Vielleicht eine Pizza? Sie habe einfach keinen Appetit, sagte sie. Ob sie lieber nach Hause wolle, fragte Tsukuru.
»Ja, tut mir leid, ich bin heute nicht so in Stimmung«, antwortete sie ehrlich, obwohl es ihr sichtlich schwerfiel.
»Weil ich so langweilige Geschichten erzählt habe?«, fragte Tsukuru.
Sie seufzte leise. »Nein, nicht deshalb. Ich möchte über ein paar Dinge nachdenken. Darum würde ich jetzt gern nach Hause gehen.«
»In Ordnung«, sagte Tsukuru. »Ich würde dich gern wiedersehen und mit dir sprechen. Aber über erfreulichere Themen.«
Sie presste einen Moment die Lippen aufeinander. »Ja, wir können uns wieder verabreden«, sagte sie, als hätte sie einen Entschluss gefasst. »Natürlich nur, wenn es dir passt.«
»Natürlich. Wenn es dir nichts ausmacht.«
»Es macht mir nicht das kleinste bisschen aus.«
»Da bin ich froh«, sagte Tsukuru. »Ich schreibe dir eine Mail.«
Die beiden verabschiedeten sich am Eingang zur U-Bahn. Sie nahm die Rolltreppe zur Yamanote-Linie, er die Treppe zur Hibiya-Linie, und jeder fuhr in seine Wohnung zurück. In seine eigenen Gedanken versunken.
Tsukuru fragte sich, was Sara von seiner Geschichte hielt. Er hatte ihr nicht alles anvertraut, was ihn umtrieb. Es gab Dinge, die er unter keinen Umständen nach außen lassen würde. Und sie waren es, die Tsukuru Tazaki auf seiner Heimfahrt in der U-Bahn beschäftigten.
3
In dem halben Jahr, das Tsukuru am Rand des Todes verbrachte, nahm er sieben Kilo ab. Was kein Wunder war, denn er aß so gut wie nie eine richtige Mahlzeit. Er hatte immer ein rundes Gesicht gehabt, doch jetzt wurde er hager. Es genügte nicht, dass er seinen Gürtel enger schnallte, er musste sich Hosen in einer kleineren Größe kaufen. Überall ragten seine Knochen hervor, und er sah aus wie ein mageres Hähnchen. Seine Haltung wurde zusehends schlechter, und sein Rücken wurde krumm. Seine Beine waren so
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