Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
immer sorgfältig zu, damit von außen kein Licht eindrang. Dennoch spürte er, dass jemand im Raum war, im Dunkeln lauerte und ihn beobachtete, mit angehaltenem Atem und ohne einen Geruch zu verströmen. Wie ein Tier, das sich tarnt, hatte er die Farbe der Dunkelheit angenommen und sich unsichtbar gemacht. Doch aus irgendeinem Grund wusste Tsukuru, dass es Haida war.
Herr Grau.
Grau entsteht, indem man Schwarz und Weiß mischt. Und es kann seine Intensität ändern und mühelos mit den verschiedenen Schattierungen der Dunkelheit verschmelzen.
Haida stand in einer Ecke des dunklen Zimmers und starrte auf Tsukuru herunter, der auf dem Rücken in seinem Bett lag. Wie einer dieser Pantomimen, die Skulpturen darstellen, rührte er lange Zeit keinen Muskel. Das Einzige, was sich bewegte, waren vielleicht seine langen Wimpern. Es war ein sonderbarer Gegensatz. Auf der einen Seite Haida, der sich aus eigenem Willen völlig still verhielt, auf der anderen Tsukuru, der sich nicht aus freiem Willen bewegen konnte. Ich muss etwas sagen, dachte Tsukuru. Ich muss dieses illusionäre Gleichgewicht zerstören. Aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er konnte weder seine Lippen noch seine Zunge bewegen. Nur lautloser, trockener Atem entströmte seiner Kehle.
Was tat Haida in seinem Zimmer? Wieso stand er da und starrte Tsukuru so durchdringend an?
Das ist kein Traum, dachte Tsukuru. Für einen Traum war die Szene zu plastisch und detailliert. Dennoch konnte Tsukuru nicht beurteilen, ob es wirklich Haida war, der dort stand. Oder ob der echte Haida – sein realer Körper – auf dem Sofa im Nebenzimmer lag und schlief und dieser hier eine Art anderes Ich von ihm war, das sich aus ihm herausgelöst hatte. Aber die Gestalt kam ihm nicht gefährlich oder bösartig vor. Was immer er dort tat, Haida wollte ihm nichts Böses – davon war Tsukuru überzeugt. Das hatte er gespürt, seit sie sich das erste Mal begegnet waren. Sozusagen instinktiv.
Aka war auch scharfsinnig gewesen, aber seiner Klugheit hatte immer, das musste man zugeben, etwas Pragmatisches und manchmal auch eine berechnende Seite innegewohnt. Haidas Intelligenz dagegen war reiner und profunder. Und sehr unabhängig. Mitunter konnte er ihm gar nicht folgen. Im Kopf seines Freundes schien etwas zu arbeiten, und Tsukuru hatte keine Ahnung, was es war. In solchen Momenten empfand er Verwirrung und fühlte sich irgendwie abgehängt. Aber auch dann verspürte er niemals Angst oder Gereiztheit gegenüber seinem jüngeren Freund. Die Geschwindigkeit, mit der Haidas Kopf arbeitete, und sein Horizont waren einfach auf einem anderen Niveau als Tsukurus. Also gab er es auf, mit ihm Schritt halten zu wollen.
In Haidas Gehirn existierte wahrscheinlich eine Art Hochgeschwindigkeitsspur, auf der seine Gedanken mit Vollgas dahinrasten, sodass er zu gewissen Zeiten in einen höheren Gang schalten musste. Tat er das nicht – und fuhr Tsukuru zuliebe in einem niedrigen Gang weiter –, überhitzte sein Denksystem, und es kam zu Abweichungen. Meist verließ Haida seine Überholspur auch gleich wieder, er bremste und passte sich Tsukurus Tempo an. Ein ruhiges Lächeln, als wäre nichts gewesen, trat auf seine Lippen.
Noch immer stand Haida reglos in der nächtlichen Dunkelheit und starrte Tsukuru schweigend an. Wie lange tat er das schon? Tsukurus Zeitgefühl schien außer Kraft gesetzt. Offenbar wollte Haida ihm etwas sagen. Es war, als hätte er eine dringende Botschaft, die er aber aus irgendeinem Grund nicht in Worte zu fassen vermochte. Darüber war sein kluger Freund sicher verstimmt.
Plötzlich musste Tsukuru an die Geschichte von Midorigawa denken, die Haida ihm gerade erzählt hatte. Was war in dem Stoffbeutel gewesen, den Midorigawa auf das Klavier gelegt hatte, als er – den Tod vor Augen, wie er behauptete – in der kleinen Schule spielte? Auch am Ende von Haidas Geschichte war das Rätsel ungelöst geblieben. Tsukuru hatte sich keine Gedanken über den Inhalt des Beutels gemacht. Jemand hätte ihn über die Bedeutung des Beutels aufklären müssen. Warum hatte Midorigawa ihn so fürsorglich auf das Klavier gelegt? Das musste doch ein bedeutsamer Aspekt der Geschichte sein.
Doch darauf würde er nie eine Antwort erhalten. Nach langem Schweigen verließ Haida – oder dessen anderes Ich – leise seinen Platz. Tsukuru glaubte, einen schwachen Seufzer gehört zu haben, während die Präsenz seines Freundes nachließ, aber sicher war er sich nicht. Als er verschwunden
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