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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Noch immer konnte er keine Grenze zwischen Traum und Fantasie, zwischen Fantasie und Realität ziehen.
    In der Dunkelheit suchte Tsukuru nach Worten. Es waren keine Worte, die er an jemand Bestimmten hätte richten können. Er musste nur das richtige Wort finden, und sei es bloß, um die namenlose Kluft der Stille zu füllen. Bevor Haida aus dem Bad zurückkam. Aber er fand es nicht. Stattdessen wiederholte sich in seinem Kopf unablässig eine einfache Melodie. Erst später fiel ihm ein, dass es sich dabei um das Thema von Liszts »Le mal du pays« handelte. Die »Pilgerjahre« – Années de pèlerinage, première année: Suisse . Die grundlose Traurigkeit, die der Anblick einer ländlichen Idylle im Herzen des Menschen hervorruft.
    Gleich darauf umfing ihn fast gewaltsam ein tiefer Schlaf.
    Als er erwachte, war es kurz vor acht Uhr morgens.
    Als Erstes nahm er seine Schlafanzughose in Augenschein. Ein erotischer Traum wie dieser hatte sicher Spuren hinterlassen. Nichts zu sehen. Tsukuru war verblüfft. Er hatte ganz bestimmt im Traum ejakuliert – oder zumindest an einem Ort, der nicht zur realen Welt gehörte. Sehr heftig. Er spürte es noch immer ganz deutlich. Dabei musste eine größere Menge an Samen freigesetzt worden sein. Aber es gab nicht die geringste Spur davon.
    Dann erinnerte er sich, dass Haida seinen Samen im Mund aufgenommen hatte.
    Er schloss die Augen und runzelte leicht die Stirn. War das wirklich geschehen? Nein, das konnte nicht sein. All das hat sich irgendwo im Dunkel meines Bewusstseins abgespielt, dachte er. Aber wohin war dann sein Samen verschwunden? Ebenfalls ins Dunkel seines Bewusstseins?
    Ziemlich verstört stieg Tsukuru aus dem Bett und ging im Pyjama in die Küche. Haida lag schon angezogen auf dem Sofa und las in einem dicken Buch. Er wirkte ganz vertieft, als hätte er die Außenwelt ausgeblendet. Aber als Tsukuru auftauchte, klappte er das Buch sofort zu und machte sich gut gelaunt daran, in der Küche Kaffee, Omeletts und Toast zuzubereiten. Es duftete nach frischem Kaffee. Der Duft, der die Nacht vom Tage trennt. Die beiden setzten sich an den Tisch und frühstückten, während sie leise Musik hörten. Haida aß wie immer dünn mit Honig bestrichenes, dunkel getoastetes Brot.
    Beim Essen sprach Haida nur kurz über den Geschmack und die ausgezeichnete Röstung der Kaffeebohnen, die er gerade irgendwo entdeckt hatte. Dann hing er seinen eigenen Gedanken nach. Vermutlich kreisten sie um den Inhalt des Buches, in dem er bis eben gelesen hatte. Man sah es seinen Augen an, die auf einen imaginären Punkt gerichtet waren. Obwohl sie ganz klar waren, konnte man nichts in ihnen erkennen. Diesen Blick hatte er immer, wenn er über etwas Abstraktes nachdachte. Er erinnerte Tsukuru an eine Bergquelle, die zwischen Bäumen und Sträuchern hervorschimmerte.
    Haida erschien ihm nicht anders als sonst. Es war ein Sonntagmorgen wie jeder andere. Der Himmel war leicht bewölkt und das Licht weich. Wenn Haida etwas sagte, blickte er Tsukuru direkt in die Augen, ohne dass sich hinter seinem Blick etwas verbarg. Wahrscheinlich war in Wirklichkeit gar nichts geschehen. Das Ganze war wohl eine in den Tiefen seines Bewusstseins entstandene Wahnvorstellung, dachte Tsukuru. Er schämte sich und war zugleich heftiger Verwirrung unterworfen. Den erotischen Traum von Shiro und Kuro hatte er häufig. Er suchte ihn unvorhergesehen und regelmäßig heim und führte jedes Mal zu einer Ejakulation. Doch zum ersten Mal war er so lebendig und real gewesen. Was ihn jedoch am meisten verstörte, war Haidas Auftreten. Tsukuru beschloss, dieser Frage nicht weiter nachzugehen. Er konnte grübeln, wie er wollte, zu einer Antwort würde er doch nicht gelangen. Er würde seine Zweifel in der Schublade für »ungelöste Fälle« ablegen und ihnen später nachgehen. Er hatte in seinem Kopf mehrere solcher Schubladen, in denen er schon einiges lagerte.
    Später gingen Haida und Tsukuru in die Schwimmhalle der Universität, um gemeinsam eine halbe Stunde zu schwimmen. Sonntagmorgens war das Becken leer, und sie konnten völlig ungestört ihrem eigenen Rhythmus folgen. Tsukuru konzentrierte sich darauf, seine Muskulatur korrekt einzusetzen. Rücken-, Hüftlenden- und Bauchmuskeln. Über seine Atmung musste er nicht mehr nachdenken. Hatte er einmal seinen Rhythmus gefunden, bewegte er sich automatisch. Wie immer schwamm Haida voran, und Tsukuru folgte ihm. Den Blick, ohne an etwas zu denken, auf den weißen Schaum der

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