Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
dennoch …«
Tsukuru griff erneut nach seiner leeren Kaffeetasse und umschloss sie mit beiden Händen, um sie dann wieder auf den Untersetzer zurückzustellen. Diesmal geräuschlos.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Ich habe dabei die ganze Zeit nur an dich gedacht. Ich kann mich nicht erinnern, in Gedanken irgendwo anders gewesen zu sein. Ehrlich gesagt konnte ich zu dem Zeitpunkt an gar nichts anderes denken als an dich.«
»Das mag sein. Wenn du es sagst, glaube ich es dir. Aber in deinem Kopf war noch irgendetwas anderes. Ich habe gespürt, dass etwas uns trennt. Vielleicht kann nur eine Frau das verstehen. Wie dem auch sei, ich möchte, dass du weißt, dass ich eine solche Beziehung nicht weiterführen kann. Auch wenn ich dich sehr gern habe. Ich bin direkter und anspruchsvoller, als es vielleicht den Anschein hat. Wenn es mit uns beiden etwas Ernstes werden soll, möchte ich nicht, dass dieses Etwas zwischen uns steht. Dieses Etwas , von dem ich nicht weiß, was es ist. Verstehst du, was ich meine?«
»Heißt das, dass du dich nicht mehr mit mir treffen willst?«
»Nein«, sagte sie. »Wir können uns treffen und unterhalten, so wie jetzt. Ich genieße das sehr. Aber ich möchte momentan nicht mit dir in deine Wohnung gehen.«
»Das heißt, wir schlafen nicht miteinander?«
»Das heißt es«, sagte sie ehrlich.
»Weil ich ein seelisches Problem habe?«
»Ja. Und seine Wurzeln reichen wahrscheinlich tiefer, als du denkst. Aber ich bin überzeugt, dass du dieses Problem lösen kannst, wenn du nur willst. Genau wie du einen Schaden an einem Bahnhof reparierst. Du musst nur die nötigen Daten sammeln, eine exakte Zeichnung machen und einen ausführlichen Arbeitsplan erstellen. Vor allem musst du die Reihenfolge deiner Prioritäten klären.«
»Und dazu muss ich mich noch einmal mit den vieren treffen und mit ihnen reden. Das willst du mir doch sagen?«
Sie nickte. »Und du wirst deiner Vergangenheit nicht als naiver, verletzlicher Junge, sondern als unabhängiger, berufstätiger Mann entgegentreten. Nicht sehen, was du sehen willst, sondern sehen, was du sehen musst. Wenn du das nicht tust, wirst du diese Last dein ganzes Leben lang mit dir herumschleppen. Also sag mir die Namen deiner vier Freunde. Zuerst einmal werde ich herausfinden, wo sie jetzt sind und was sie machen.«
»Wie denn?«
Sara schüttelte resigniert den Kopf. »Du hast doch eine Technische Hochschule absolviert. Benutzt du denn kein Internet? Noch nie von Google oder Facebook gehört?«
»Natürlich arbeiten wir mit dem Internet. Google und Facebook kenne ich auch. Aber privat nutze ich das alles kaum. Ich interessiere mich nicht besonders dafür.«
»Das kannst du mir überlassen. Ich bin ziemlich gut darin«, sagte Sara.
Nach dem Essen gingen die beiden zu Fuß nach Shibuya. Es war ein angenehmer Abend im Spätfrühling, und der große gelbe Mond war in Dunst gehüllt. Leichte Feuchtigkeit lag in der Luft. Der Wind griff nach dem Saum von Saras Kleid, und es flatterte so anmutig, dass sie wie schwerelos neben ihm dahinzugleiten schien. Tsukuru dachte an den Körper in diesem Kleid. Als er sich vorstellte, ihn im Arm zu halten, wurde sein Penis steif. Was sollte an der Begierde, die er empfand, problematisch sein? Sexuelles Verlangen war bei einem gesunden erwachsenen Mann völlig normal. Aber anscheinend stimmte etwas Grundlegendes mit ihm nicht. Zumindest hatte Sara ihm das erklärt. Für ihn selbst war das nicht so leicht zu beurteilen. Je mehr er über den Unterschied zwischen bewusst und unbewusst nachdachte, desto unklarer wurde er ihm. Nach einigem Zögern kam Tsukuru zu einem Entschluss. »Ich muss dem, was ich dir erzählt habe, noch etwas hinzufügen.«
Sara blickte ihm im Gehen interessiert ins Gesicht. »Was denn?«
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich bisher mit mehreren Frauen zusammen war. Und dass es aus verschiedenen Gründen mit keiner richtig gut lief. Dass das aber nicht allein meine Schuld gewesen sei.«
»Ich erinnere mich.«
»In den letzten zehn Jahren war ich mit drei oder vier Frauen zusammen. Jedes Mal ziemlich lange und ernsthaft. Nicht nur so zum Spaß. Und dass es nicht gut gegangen ist, lag immer hauptsächlich an mir. Nicht an ihnen.«
»Und was war dein Problem?«
»Natürlich war es tendenziell immer ein bisschen anders«, sagte Tsukuru. »Aber eine Gemeinsamkeit war, dass ich mich zu keiner von ihnen ernsthaft hingezogen fühlte. Natürlich hatte ich sie alle gern, und wir hatten
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