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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ging an ihnen vorbei. Ein paar Jogger liefen in Richtung der Burg.
    »Du sagtest, du wolltest mit mir über etwas sprechen«, sagte Ao wie zu jemandem, der weit fort war.
    »In den Sommerferien im zweiten Uni-Jahr, als ich in Nagoya gewesen bin, hast du mich angerufen«, begann Tsukuru. »Du hast gesagt, ihr wolltet mich nicht mehr sehen, und anrufen sollte ich euch auch nicht mehr. Darin wärt ihr euch alle vier einig. Weißt du noch?«
    »Natürlich.«
    »Ich möchte den Grund wissen«, sagte Tsukuru.
    »Jetzt auf einmal?«, fragte Ao nicht ohne Erstaunen.
    »Ja, jetzt auf einmal. Damals konnte ich nicht fragen. Der Schock, so etwas plötzlich vorgesetzt zu bekommen, war zu groß. Zugleich hatte ich auch Angst davor, den Grund für diesen radikalen Ausschluss zu erfahren. Vielleicht hätte ich mich nicht mehr davon erholt. Also habe ich versucht, alles zu vergessen, ohne etwas darüber zu erfahren. Ich glaubte, die Zeit würde die Wunde schon heilen.«
    Ao brach ein großes Stück von seinem Scone ab und steckte es sich in den Mund. Er kaute langsam und spülte es mit Cappuccino hinunter.
    »Seither sind sechzehn Jahre vergangen«, fuhr Tsukuru fort. »Aber die Wunde von damals scheint noch immer nicht geheilt zu sein. Sie blutet vielleicht sogar. Kürzlich ist etwas geschehen, das mich darauf gebracht hat. Und dieses Ereignis hat große Bedeutung für mich. Deshalb bin ich hier. Ich weiß, es kommt ein bisschen plötzlich.«
    Aos Blick ruhte auf den schwer nach unten hängenden Weidenruten. »Du hast wirklich überhaupt keine Ahnung, was der Grund gewesen sein könnte?«
    »Sechzehn Jahre lang habe ich überlegt. Aber herausgefunden habe ich ihn nicht.«
    Aos Augen wurden schmal, und er kratzte sich etwas betreten den Nasenrücken, wie er es immer tat, wenn er intensiv nachdachte. »Als ich damals zu dir sagte, du wüsstest schon, warum, hast du einfach aufgelegt. Nicht protestiert und auch keine Erklärung verlangt. Also habe ich selbstverständlich angenommen, du wüsstest Bescheid.«
    »Ich war so tief getroffen, dass es mir die Sprache verschlug«, sagte Tsukuru.
    Ao zerbröckelte kommentarlos seinen Scone und warf die Krümel den Tauben hin, die in Scharen angeflattert kamen. Es wirkte routiniert. Vielleicht kam er in seiner Mittagspause immer allein hierher und teilte sein Essen mit den Tauben.
    »Also, was war denn nun der Grund?«, fragte Tsukuru.
    »Du hast wirklich keine Ahnung?«
    »Nein, wirklich nicht.«
    In diesem Moment ertönte eine muntere Melodie – Aos Handy. Er nahm es aus der Jackentasche und überprüfte mit einem Blick den Namen des Anrufers. Dann drückte er eine Taste und ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten. Tsukuru kannte die Melodie. Es war ein uralter Popsong, ein Hit aus einer Zeit, in der er noch nicht geboren war. Er hatte ihn schon oft gehört, aber der Titel fiel ihm nicht ein.
    »Lass dich nicht stören«, sagte Tsukuru.
    Ao schüttelte den Kopf. »Nein, schon gut. Ist nicht wichtig. Das kann warten.«
    Tsukuru nahm einen Schluck Mineralwasser aus seiner Plastikflasche, um sich die Kehle zu befeuchten. »Warum wurde ich damals aus der Gruppe ausgestoßen?«
    Ao überlegte einen Moment lang. »Wie soll ich es dir sagen, wo du doch keine Ahnung hast – hattest du denn keine sexuelle Beziehung zu Shiro?«
    Tsukurus Lippen bewegten sich stockend. »Eine sexuelle Beziehung? Was?«
    »Shiro sagte, du hättest sie vergewaltigt.« Es fiel Ao sichtlich schwer, dies auszusprechen. »Du hättest sie gegen ihren Willen zum Sex gezwungen.«
    Tsukuru versuchte etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Obwohl er gerade von dem Wasser getrunken hatte, war seine Kehle so trocken, dass sie schmerzte.
    »Ich konnte auch nicht glauben, dass du so etwas getan haben solltest«, sagte Ao. »Den anderen beiden, Kuro und Aka, ging es genauso. Du bist überhaupt nicht der Typ, der jemandem Gewalt antun würde. Und schon gar nicht so was. Da waren wir uns sicher. Aber Shiro meinte es bitterernst, und sie war nicht davon abzubringen. Du habest zwei Gesichter, sagte sie. Wir könnten uns dein anderes Gesicht nicht vorstellen, weil du uns nur deine schöne Fassade zeigen würdest, aber nicht deine finstere Seite. Dagegen konnten wir nicht viel sagen.«
    Tsukuru biss sich auf die Lippen. »Hat Shiro erzählt, wie ich sie vergewaltigt haben soll?«
    »Ja. Ziemlich realistisch und bis ins Detail. Ich würde das ungern wiederholen. Glaub mir, für mich war es auch schlimm, das zu hören.

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