Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
am Eingang Yaesu und setzte sich auf einem Bahnsteig der Yamanote-Linie auf eine Bank. Eine Stunde lang beobachtete er, wie die grünen Waggons einer nach dem anderen einfuhren, unzählige Menschen ausspien, rasch unzählige Menschen wieder aufnahmen und abfuhren. Dabei dachte er an gar nichts. Seinen Kummer linderte das nicht, doch wie immer faszinierte ihn die Wiederholung und betäubte zumindest sein Zeitgefühl.
Unentwegt strömten die Menschen herbei, stellten sich unaufgefordert hintereinander an, bestiegen gesittet die Züge und ließen sich befördern. Am meisten beeindruckte Tsukuru die schiere Masse der Menschen auf dieser Welt. Es erschien ihm wie ein wahres Wunder, dass all diese Menschen in all diesen Zügen transportiert wurden, als wäre nichts dabei. Und dass jeder Einzelne von ihnen irgendwoher kam und irgendwohin ging. Einen Ausgangspunkt und ein Ziel hatte.
Als die Wogen des Berufsverkehrs endlich verebbten, stand Tsukuru langsam auf, stieg in einen der ankommenden Züge und fuhr nach Hause. Noch immer tat ihm das Herz weh. Doch es gab etwas, das er tun musste.
10
Ende Mai nahm Tsukuru sich für ein verlängertes Wochenende frei und fuhr für drei Tage nach Nagoya. Der Moment war günstig gewählt, da in diese Zeit auch die Gedenkfeier zum Todestag seines Vaters fiel.
Seit dessen Tod lebten seine älteste Schwester und ihr Mann bei seiner Mutter in dem großen Haus. Tsukurus ehemaliges Zimmer wurde nicht benutzt, und er konnte darin schlafen. Das Bett, der Schreibtisch und das Bücherregal stammten noch aus seiner Schulzeit. Im Regal standen die Bücher, die er früher gelesen hatte, und in der Schreibtischschublade lagen noch Schreibzeug und Hefte von ihm.
Der erste Tag verging mit der Andacht im Tempel, dem Essen mit den Verwandten und endlosen Gesprächen mit der Familie, aber ab dem folgenden Tag war er frei. Tsukuru beschloss, zuerst Ao aufzusuchen. Sonntags hatten die meisten Firmen geschlossen, nicht jedoch die Autohäuser. Er machte sich auf gut Glück auf den Weg, vielleicht würde er Ao ja auch ohne Termin antreffen. Er hatte das von Anfang an so geplant. Die spontanste Reaktion war zu erwarten, wenn er unangemeldet auftauchte. Und sollte Ao nicht da sein oder sich weigern, ihn zu sehen, war eben nichts zu machen. Dann musste er sich den nächsten Schritt überlegen.
Die Ausstellungsräume von Lexus befanden sich in einem ruhigen Viertel unweit der Burg Nagoya. Hinter riesigen Scheiben glänzten in verschiedenen Farben die neuesten Modelle vom Sportcoupé bis zur Limousine mit Allradantrieb. Beim Eintreten schlug ihm der eigentümliche Neuwagengeruch entgegen – eine Mischung aus neuen Reifen, Kunststoff und Leder.
Tsukuru ging zum Empfang und sprach die junge Frau hinter der Theke an. Sie trug ihr Haar zu einer eleganten Frisur aufgesteckt, die ihren schlanken weißen Hals zur Geltung brachte. In einer Blumenvase auf der Theke stand ein großer Strauß aus rosa und weißen Dahlien.
»Ich würde gern Herrn Oumi sprechen«, sagte Tsukuru.
Sie sah ihn mit einem freundlichen, distinguierten Lächeln an, das gut zu dem hellen, sauberen Ausstellungsraum passte. Sie hatte sehr schöne Zähne, und die Farbe ihres Lippenstifts wirkte natürlich. »Herr Oumi ist im Haus. Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
»Ich heiße Tazaki«, sagte Tsukuru.
»Haben Sie einen Termin, Herr Tassaki?«
Er wollte sie nicht darauf hinweisen, dass sie seinen Namen falsch aussprach. Vielleicht war das sogar ganz günstig.
»Nein, ich bin nicht mit ihm verabredet.«
»Warten Sie bitte einen Moment.« Sie drückte eine Kurzwahltaste auf ihrem Telefon. Es dauerte nur etwa fünf Sekunden, bis jemand sich meldete. »Herr Oumi, hier ist ein Herr Tasaki, der Sie sprechen möchte. Ja, genau. Herr Tasaki.«
Tsukuru konnte natürlich nicht hören, was der andere sagte, aber die Empfangsdame stimmte ihm bei irgendetwas zu. »Ja, gut, ich verstehe«, sagte sie zum Schluss.
Sie legte auf und sah Tsukuru an. »Es tut mir sehr leid, aber Herr Oumi ist gerade unabkömmlich. Hätten Sie eventuell Zeit, etwas zu warten? Länger als zehn Minuten wird es nicht dauern, sagt er.«
Sie drückte sich flüssig und routiniert aus. Auch die Höflichkeitsformen benutzte sie korrekt. Es hörte sich an, als täte es ihr wirklich ausgesprochen leid, ihn warten zu lassen. Sie war sehr wohlerzogen. Oder vielleicht auch ein Naturtalent.
»Kein Problem. Ich habe es nicht besonders eilig«, sagte Tsukuru.
Sie geleitete ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher