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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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abgesteckten Terrain bewegte.
    »Kuro weiß wahrscheinlich viel genauer Bescheid«, sagte Ao. »Schon damals kam es mir so vor, als hätten die beiden uns einiges nicht erzählt. Wäre ja auch verständlich. Von Frau zu Frau kann man über solche Dinge viel offener sprechen.«
    »Kuro lebt jetzt in Finnland«, sagte Tsukuru.
    »Ich weiß. Sie schreibt ab und zu eine Postkarte«, sagte Ao.
    Die beiden schwiegen erneut. Eine Gruppe von drei Oberschülerinnen in Schuluniformen durchquerte den Park. Die Mädchen, die unter lautem Gelächter und mit lebhaft schwingenden kurzen Röcken an ihnen vorübergingen, wirkten noch sehr kindlich. Weiße Socken und schwarze Halbschuhe. Kinder. Der Gedanke, vor gar nicht allzu langer Zeit selbst in diesem Alter gewesen zu sein, war seltsam.
    »Weißt du, Tsukuru, du hast dich äußerlich völlig verändert«, sagte Ao.
    »Wir haben uns sechzehn Jahre lang nicht gesehen. Da verändert man sich schon.«
    »Nein, es liegt nicht nur an den Jahren. Zuerst habe ich dich überhaupt nicht erkannt. Erst bei genauerem Hinsehen. Du wirkst so dünn und unerschrocken. Deine Wangen sind eingefallen, und dein Blick ist durchdringend geworden. Früher hast du runder und weicher ausgesehen.«
    Tsukuru sprach nicht aus, dass er fast ein halbes Jahr lang ernsthaft daran gedacht hatte, zu sterben, sich selbst auszulöschen, und dass diese Zeit große Veränderungen in ihm bewirkt hatte. Was hätte es genutzt, Ao dies anzuvertrauen? Er hätte ihm kaum übermitteln können, wie sehr er gelitten hatte. Da war es besser, gar nichts zu sagen. Tsukuru wartete schweigend darauf, dass der andere fortfuhr.
    »In unserer Gruppe hattest du immer die Rolle des sympathischen Sonnyboys. Sauber, adrett, gute Manieren. Du wusstest, wie man ordentlich Guten Tag sagt, und hast nie Blödsinn geredet. Du hast nicht geraucht, kaum Alkohol getrunken und bist nie zu spät gekommen. Und weißt du was? Du warst der Schwarm aller Mütter.«
    »Welcher Mütter?«, fragte Tsukuru entgeistert. Er hatte keinerlei Erinnerung an Mütter. »Außerdem habe ich nie gut ausgesehen, weder damals noch heute. Ich sehe absolut mittelmäßig und nichtssagend aus.«
    Ao zuckte wieder die breiten Schultern. »Keine Ahnung, von uns sahst du jedenfalls am besten aus. Mein Gesicht mag ja markant sein, aber ich sehe aus wie ein Gorilla. Und Aka war der typische Streber mit Brille, wie aus dem Bilderbuch. Ich will damit nur sagen, dass jeder in unserer Gruppe eine bestimmte Rolle spielte. Solange sie bestand, natürlich.«
    »War dir bewusst, dass du eine Rolle spieltest?«
    »Nein, nicht so direkt. Aber damals haben wir alle das doch vage gespürt, oder? Wer welche Position in der Gruppe hatte«, sagte Ao. »Ich war die stets aufgeräumte Sportskanone, Aka der scharfsinnige Denker und Intellektuelle, Shiro das schöne Mädchen und Kuro die geistreiche Komikerin. Und du warst der wohlerzogene hübsche Junge.«
    Tsukuru dachte nach. »Ich habe mich immer für einen farblosen, hohlen Typen ohne besondere Kennzeichen gehalten. Und das war vermutlich auch meine Rolle in der Gruppe: leer zu sein.«
    Ao machte ein verwundertes Gesicht. »Das verstehe ich nicht. Was ist Leer-Sein denn für eine Rolle?«
    »Ein leeres Gefäß. Ein farbloser Anblick. Jemand, der nichts falsch macht und auch nicht herausragt. Wahrscheinlich hat die Gruppe so jemanden gebraucht.«
    Ao schüttelte den Kopf. »Nein, du warst nicht leer. Keiner von uns hat dich so gesehen. Du hast, wie soll ich sagen, für Entspannung gesorgt.«
    »Für Entspannung gesorgt?«, fragte Tsukuru verblüfft. »Wie Fahrstuhlmusik?«
    »Nein, so meine ich das nicht. Ich kann es nicht gut erklären, aber wenn du dabei warst, konnten wir ganz natürlich wir selbst sein. Du hast nicht viel geredet, aber du standest mit beiden Füßen fest auf dem Boden, und das gab der Gruppe so ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Wie ein Anker. Das machte sich deutlich bemerkbar, wenn du nicht da warst. Du warst sogar der Einzige, den wir wirklich brauchten. Wahrscheinlich war das auch der Grund dafür, dass wir bald auseinandergingen, als du nicht mehr da warst.«
    Tsukuru fand keine Worte und schwieg.
    »Tja, in gewissem Sinne waren wir eine vollkommene Gemeinschaft. Wie fünf Finger an einer Hand.« Ao hob seine Rechte und spreizte die dicken Finger. »Ich denke das immer noch oft. Wir fünf haben uns auf ideale Weise ergänzt. Wir haben unsere jeweiligen Talente vorgelegt und wollten sie rückhaltlos teilen. So

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