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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Schlimm und traurig. Wahrscheinlich habe ich dabei auch eine Art seelische Verletzung abbekommen. Jedenfalls hatte sie furchtbare Gefühlsausbrüche. Sie war so wütend, dass sie am ganzen Körper zitterte und ihr Aussehen sich völlig veränderte. Ihre Geschichte war die: Ein berühmter ausländischer Pianist gab ein Konzert in Tokio. Sie fuhr allein dorthin, um ihn zu hören. Übernachten wollte sie bei dir in Jiyugaoka, sie ließ sich aber trotzdem von ihren Eltern das Geld für ein Hotel geben. Sie dachte sich nichts dabei, allein bei einem Jungen zu übernachten. Schließlich warst du es. Aber in der Nacht hättest du sie vergewaltigt. Sie wollte sich wehren, aber sie konnte sich nicht bewegen, ihr Körper sei wie gelähmt gewesen. Ihr hättet vor dem Schlafengehen etwas getrunken, und wahrscheinlich hättest du ihr bei der Gelegenheit etwas ins Getränk gemischt. So hat sie es erzählt.«
    Tsukuru schüttelte den Kopf. »Shiro war nie bei mir in Tokio, ganz zu schweigen von einer Übernachtung.«
    Ao zuckte mit den breiten Schultern. Er verzog das Gesicht, als hätte er etwas Bitteres im Mund, und wich Tsukurus Blick aus. »Uns blieb damals nichts anderes übrig, als Shiros Geschichte zu glauben. Sie sei noch Jungfrau gewesen. Es habe sehr wehgetan und stark geblutet, sagte sie. Wir konnten uns keinen Grund denken, warum ausgerechnet Shiro eine so haarsträubende Geschichte hätte erfinden sollen. Sie war doch immer so schüchtern.«
    Tsukuru wandte sich an Aos Profil. »Aber warum habt ihr mich nicht direkt gefragt? Ihr hättet mir Gelegenheit geben müssen, mich zu rechtfertigen. Stattdessen habt ihr mich quasi in Abwesenheit verurteilt.«
    Ao seufzte. »Du hast natürlich recht. Im Nachhinein betrachtet hätten wir uns erst mal abregen und uns dann deine Version anhören sollen. Aber dazu waren wir damals nicht in der Lage. Die Stimmung war nicht danach. Shiro war so aufgelöst und verstört, dass wir nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten. Also mussten wir sie erst einmal beruhigen und ihre Panik lindern. Wir haben ihr auch nicht hundertprozentig geglaubt. Ehrlich gesagt kam uns die Geschichte seltsam vor. Aber dass sie völlig aus der Luft gegriffen war, konnten wir uns nicht vorstellen. So deutlich, wie sie die Sache schilderte, musste ja etwas Wahres daran sein. Dachten wir.«
    »Und deshalb habt ihr mich auch gleich abserviert.«
    »Weißt du, Tsukuru, auch wir hatten einen Schock und waren völlig verstört. Und verletzt. Wir wussten nicht, wem wir glauben sollten. Es war Kuro, die sich zuerst auf Shiros Seite stellte und ihre Forderung, dich in Zukunft zu schneiden, unterstützte. Das ist keine Entschuldigung, aber die beiden haben Aka und mich so stark unter Druck gesetzt, dass wir uns fügten.«
    Tsukuru seufzte. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich habe Shiro nicht vergewaltigt und auch keine sexuelle Beziehung zu ihr gehabt. Ich erinnere mich nicht einmal, ihr irgendwie nähergekommen zu sein.«
    Ao nickte, sagte aber nichts.
    Es ist einfach zu viel Zeit vergangen, dachte Tsukuru. Für die anderen drei und auch für mich selbst.
    Wieder ertönte die Melodie von Aos Handy. Ao sah nach, wer der Anrufer war, und wandte sich an Tsukuru.
    »Entschuldige, kann ich kurz rangehen?«
    »Natürlich«, sagte Tsukuru.
    Ao stand auf und entfernte sich zum Telefonieren ein Stück von der Bank. Seiner Haltung und seiner Miene war anzusehen, dass er mit einem Kunden verhandelte.
    Ganz plötzlich fiel Tsukuru der Titel der Handy-Melodie ein. Es war »Viva Las Vegas« von Elvis Presley. Allerdings erschien ihm dieser Klingelton ganz und gar unpassend für einen seriösen Vertreter von Lexus-Limousinen. Die Dinge schienen sich zunehmend von der Wirklichkeit zu entfernen.
    Kurz darauf setzte Ao sich wieder neben ihn auf die Bank.
    »Entschuldige«, sagte er. »Es war wichtig.«
    Tsukuru sah auf die Uhr. Die verabredeten dreißig Minuten neigten sich dem Ende zu.
    »Warum hat Shiro diese haarsträubende Geschichte erzählt? Und warum musste ausgerechnet ich derjenige sein?«
    »Tja, das weiß ich auch nicht.« Ao schüttelte mehrmals kraftlos den Kopf. »Es tut mir sehr leid für dich, aber ich habe weder damals noch heute verstanden, worum es dabei ging.«
    Ao war so verwirrt, dass er nicht wusste, was er glauben sollte. Und mit Dingen, die ihn verwirrten, konnte er nicht umgehen. Seine Fähigkeiten kamen am besten zum Tragen, wenn er sich mit einer bestimmten Mannschaft unter bestimmten Regeln auf einem

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