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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wechselte Tsukuru das Thema.
    Ao blieb abrupt stehen. Er rührte sich nicht, reglos wie eine Statue stand er da. Ein Passant wäre fast von hinten auf ihn geprallt. Er sah Tsukuru frontal ins Gesicht.
    »Sag bloß, du weißt nicht, wie Shiro gestorben ist!«
    »Woher denn? Ich habe überhaupt erst letzte Woche erfahren, dass sie gestorben ist. Niemand hat mir etwas davon gesagt.«
    »Liest du denn keine Zeitung?«
    »Ich überfliege sie. Aber mir ist kein solcher Artikel begegnet. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber vielleicht wurde in den Tokioter Zeitungen auch nicht darüber berichtet.«
    »Und deine Familie hat dir auch nichts gesagt?«
    Tsukuru schüttelte nur den Kopf.
    Bestürzt sah Ao geradeaus und setzte sich, ohne etwas zu sagen, wieder in Bewegung. Tsukuru folgte ihm.
    »Nachdem Shiro die Musikhochschule absolviert hatte, gab sie eine Weile zu Hause Klavierunterricht«, begann Ao nach einer Pause. »Irgendwann zog sie nach Hamamatsu, wo sie allein lebte. Nach etwa zwei Jahren wurde sie erwürgt in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihre Mutter fand sie; sie hatte sich Sorgen gemacht, weil sie länger nichts von ihr gehört hatte. Sie hat sich nie wieder von dem Schock erholt. Der Mörder ist noch immer nicht gefunden.«
    Tsukuru schluckte. Erwürgt?
    »Es war am 12.   Mai vor sechs Jahren, als ihre Mutter sie fand. Wir hatten zu der Zeit kaum noch Kontakt zu ihr. Wir wissen nicht, wie ihr Leben in Hamamatsu aussah. Wir wissen nicht einmal, warum sie dorthin gezogen ist. Sie war schon seit drei Tagen tot. Ohne dass jemand etwas bemerkt hat, hat sie drei Tage auf dem Fußboden in ihrer Küche gelegen.«
    Ao erzählte im Gehen weiter.
    »Ich war auf ihrer Beerdigung in Nagoya. Ich konnte überhaupt nicht aufhören zu weinen. Es fühlte sich an, als sei ein Teil von mir gestorben und zu Stein geworden. Wie gesagt hatten wir damals eigentlich schon nicht mehr viel miteinander zu tun. Wir waren erwachsen, und jeder führte sein eigenes Leben. So ist das eben. Wir waren keine unbeschwerten Schüler mehr. Aber dennoch ist es traurig, mitanzusehen, wie das, was einem einmal so viel bedeutet hat, allmählich verblasst und verschwindet. Immerhin haben wir bewegte Zeiten miteinander verbracht und sind zusammen erwachsen geworden.«
    Als Tsukuru Atem holte, brannten seine Lungen wie Feuer. Er konnte nicht sprechen. Seine Zunge fühlte sich so geschwollen an, dass sie ihm nicht gehorchte und seinen Mund blockierte.
    Wieder spielte das Handy »Viva Las Vegas«, doch diesmal ignorierte Ao es und ging weiter. Die unpassende Melodie klimperte eine Weile munter in seiner Tasche weiter und verstummte schließlich.
    Vor dem Eingang des Autohauses ergriff Ao Tsukurus Hand und schüttelte sie kräftig. »Es war schön, dich zu sehen«, sagte er und blickte Tsukuru in die Augen. Schon früher hatte Ao anderen gern direkt in die Augen geschaut und ihnen kräftig die Hand geschüttelt. Daran hatte sich nichts geändert.
    »Jetzt habe ich dich lange genug von der Arbeit abgehalten.« Endlich brachte Tsukuru wieder etwas heraus.
    »Kein Problem. Ich würde mich gern mal in Ruhe mit dir treffen, wenn ich mehr Zeit habe. Es gibt einiges zu besprechen, finde ich. Sag Bescheid, wenn du wieder in Nagoya bist.«
    »Mache ich. Dann treffen wir uns«, sagte Tsukuru. »Erinnerst du dich übrigens an das Stück, das Shiro früher so oft auf dem Klavier gespielt hat? ›Le mal du pays‹ von Franz Liszt. Ein ruhiges Stück von fünf oder sechs Minuten.«
    Nach kurzem Nachdenken schüttelte Ao den Kopf. »Wenn ich es hören würde, vielleicht. Aber der Titel sagt mir nichts. Ich kenne mich mit klassischer Musik auch nicht besonders gut aus. Ist etwas damit?«
    »Nein, es ist mir nur eingefallen«, sagte Tsukuru. »Eine Frage noch zum Schluss. Was bedeutet eigentlich ›Lexus‹?«
    Ao lachte. »Das werde ich oft gefragt. Es bedeutet überhaupt nichts. Es ist ein Kunstwort. Toyota hat eine Werbefirma in New York beauftragt, und die haben es erfunden. Ein Wort, das sich gut anhört und nach Luxus klingt. Es ist schon eine komische Welt. Da gibt es Leute, die fleißig Bahnhöfe bauen, und andere kriegen einen Haufen Geld dafür, dass sie schöne Wörter erfinden.«
    »Das nennt man im Allgemeinen industrielle Differenzierung. Das ist der Lauf der Zeit«, sagte Tsukuru.
    Ein breites Grinsen erschien auf Aos Gesicht. »Dann probieren wir mal, nicht zurückzubleiben.«
    Die beiden trennten sich. Ao nahm sein Handy aus der Tasche, während er das Autohaus

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