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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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betrat.
    Tsukuru wartete an der Kreuzung darauf, dass die Ampel grün wurde. Wahrscheinlich würde er Ao nicht wiedersehen. Dreißig Minuten waren eine kurze Zeit für zwei alte Freunde, die sich sechzehn Jahre lang nicht gesehen hatten. Es gab vieles, das sie einander nicht hatten erzählen können. Zugleich wusste Tsukuru, dass nichts Wichtiges ungesagt geblieben war.
    Er nahm sich ein Taxi und fuhr in die Bücherei, wo er sich die Archivausgaben der Zeitungen von vor sechs Jahren geben ließ.

11
    Am folgenden Tag, es war ein Montag, machte Tsukuru sich gegen halb elf auf den Weg zu Akas Büro. Es lag etwa fünf Kilometer von den Lexus-Ausstellungsräumen entfernt im siebten Stock eines modernen Geschäftsgebäudes aus Stahl und Glas. Aka teilte sich die Etage mit einem bekannten deutschen Pharma-Hersteller. Tsukuru trug denselben dunklen Anzug wie am Vortag und dazu die blaue Krawatte von Sara.
    Den Eingang zierte ein großes, stilvolles Logo: BEYOND . Die Räumlichkeiten waren lichtdurchflutet, offen und äußerst gepflegt. Über der Rezeption hing ein riesiges Gemälde in verschwenderisch bunten Farben. Seine Bedeutung war nicht verständlich, aber es wirkte auch nicht besonders subtil. Abgesehen davon gab es keine Dekoration. Keine Blumen und keine Vase. Der Eingang vermittelte keine Vorstellung davon, welche Geschäfte die Firma betrieb. Begrüßt wurde Tsukuru von einer jungen Frau Anfang zwanzig mit hübsch zu einer Außenwelle frisiertem Haar. Sie trug ein hellblaues, kurzärmeliges Kleid und eine mit Perlen besetzte Brosche. Sie wirkte wie ein Mädchen aus einer gut situierten Familie, das eine glückliche Kindheit verbracht hat. Mit einem herzlichen Lächeln nahm sie Tsukurus Visitenkarte entgegen und stupste mit einer sanften Geste, die an die weiche Nase eines großen Hundes denken ließ, eine Taste des Haustelefons an.
    Gleich darauf öffnete sich eine Tür, und eine stämmige Dame erschien. Sie mochte Mitte vierzig sein und trug ein dunkles Kostüm mit Schulterpolstern und schwarze Pumps mit Blockabsätzen. Ihre Gesichtszüge waren auf sonderbare Weise makellos. Ihr Haar war kurz geschnitten, sie hatte ein kräftiges Kinn und wirkte ausnehmend tüchtig. Sie gehörte zu jenem Typ Frau in mittleren Jahren, die in allem, was sie tut, äußerst patent zu Werke geht. Wäre sie Schauspielerin gewesen, hätte sie eine altgediente Oberschwester oder die Wirtin eines Luxusbordells spielen können.
    Sie nahm Tsukurus Visitenkarte skeptisch in Augenschein. Was wollte ein Repräsentant der Abteilung für Bau- und Ingenieurwesen einer Tokioter Eisenbahngesellschaft vom Direktor der »Creative-Business-Seminare« in Nagoya? Und auch noch ohne Termin. Dennoch fragte sie ihn nicht nach dem Zweck seines Besuchs.
    »Dürfte ich Sie bitten, einen Moment hier zu warten?«, sagte sie mit einem Minimum an Lächeln. Nachdem sie Tsukuru einen Stuhl angeboten hatte, verschwand sie hinter derselben Tür. Der Stuhl war schlicht, ein skandinavisches Design aus Chrom und weißem Leder. Er wirkte elegant, sauber und dezent, aber es fehlte ihm die Wärme. Wie einer weißen Nacht, in der unablässig feiner Regen fällt. Tsukuru setzte sich auf den Stuhl und wartete. Die junge Frau tippte währenddessen etwas in den Laptop, der auf der Theke stand. Hin und wieder sah sie zu Tsukuru hinüber und lächelte ihm aufmunternd zu.
    Sie war ein ähnlicher Typ wie die junge Frau am Empfang bei Lexus. In Nagoya begegnet man diesem Typus häufiger. Regelmäßige Gesichtszüge, sehr gepflegt, immer gut frisiert und eine sympathische Ausstrahlung. Diese jungen Frauen hatten meist an einer kostspieligen Frauen-Universität Romanistik studiert. Nach dem Examen suchten sie sich einen Job bei einer ortsansässigen Firma, wo sie ein paar Jahre am Empfang oder im Büro arbeiteten. In ihrem Urlaub reisten sie mit Freundinnen zum Shopping nach Paris. Irgendwann lernten sie einen jungen Angestellten mit einer vielversprechenden Zukunft kennen oder wurden ihm vorgestellt, heirateten ihn und verließen glücklich die Firma. Danach widmeten sie sich ganz dem Ziel, ihre Kinder auf renommierte Privatschulen zu schicken. Während Tsukuru auf seinem Stuhl saß, ließ er ihr Leben im Geiste an sich vorüberziehen.
    Nach etwa fünf Minuten kam die ältere Sekretärin zurück und führte ihn in Akas Büro. Ihr Lächeln war um einige Grade freundlicher als zuvor. Damit würdigte sie den Besucher, der ohne Termin zu ihrem Chef vorgelassen wurde. Wahrscheinlich kam

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