Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
klar«, sagte Tsukuru.
»Freut mich«, sagte Sara. »Auch dass du nicht umsonst hingefahren bist.«
»Wenn es irgend geht, würde ich dich gern sehen und dir alles in Ruhe erzählen.«
»Moment bitte, ich sehe nach.«
Sie brauchte etwa fünfzehn Sekunden, um in ihrem Terminkalender nachzusehen. Während dieser Zeit schaute Tsukuru aus dem Fenster, vor dem sich der riesige Stadtteil Shinjuku ausbreitete. Der Himmel war von einer dichten Wolkenschicht bedeckt, und es sah aus, als würde es gleich anfangen zu regnen.
»Übermorgen Abend hätte ich Zeit. Wie sieht es bei dir aus?«, sagte Sara.
»Übermorgen ist gut. Lass uns essen gehen.« Tsukuru brauchte nicht in seinem Notizbuch nachzuschauen. Er hatte abends fast nie etwas vor.
Sie verabredeten einen Treffpunkt und beendeten das Gespräch. Nachdem er aufgelegt hatte, verspürte er einen seltsamen Druck auf der Brust, als hätte er etwas Unverdauliches gegessen. Vor dem Gespräch mit Sara war der Druck nicht da gewesen, dessen war er sich ganz sicher. Aber was das bedeutete oder ob es überhaupt etwas bedeutete, konnte er nicht ergründen.
Er versuchte, das Gespräch mit Sara möglichst genau zu rekonstruieren. Seinen Inhalt, den Klang ihrer Stimme, die Pausen … Es war nicht anders gewesen als sonst. Er ließ das Handy in die Tasche gleiten und kehrte an seinen Tisch zurück, um zu Ende zu essen. Aber nun hatte er keinen Appetit mehr.
Am Nachmittag und den ganzen folgenden Tag über musste Tsukuru in Begleitung eines erst kürzlich eingestellten Assistenten mehrere Bahnhöfe begehen, in denen neue Fahrstühle installiert werden sollten. Er ließ den Assistenten Messungen vornehmen und überprüfte, ob sie mit den Plänen der Bahnhöfe, die in der Hauptstelle aufbewahrt wurden, und den Gegebenheiten vor Ort übereinstimmten. Es kam vor, dass zwischen den Konstruktionsplänen eines Bahnhofs und seinem aktuellen Zustand unerwartete Abweichungen auftraten. Dafür konnte es verschiedene Gründe geben. Es war jedoch unerlässlich, sich in allen Einzelheiten auf die Pläne verlassen zu können, bevor mit den Arbeiten begonnen wurde. Andernfalls konnte es zu fatalen Fehlern kommen. Dann war es, als lande eine kämpfende Truppe mit einer fehlerhaften Karte auf einer unbekannten Insel.
Anschließend setzte er sich mit dem Bahnhofsvorsteher zusammen, um die verschiedenen Probleme zu besprechen, die sich bei den Umbauten ergeben konnten. Bei der Installation der Fahrstühle mussten gewisse Bereiche gesperrt und der Strom der Fahrgäste entsprechend umgeleitet werden. Diese Veränderungen mussten organisatorisch bewältigt werden. Natürlich hatte die Sicherheit der Fahrgäste höchste Priorität; zugleich musste gewährleistet sein, dass das Bahnhofspersonal seiner Arbeit reibungslos nachkommen konnte. Tsukuru hatte den Auftrag, diese Faktoren zu koordinieren, die Zeichnungen für die Umbauten zu erstellen und auf die bestehenden Pläne zu übertragen. Das war eine schwere, aber entscheidende Aufgabe, denn die Sicherheit der Fahrgäste stand auf dem Spiel. Tsukuru bewältigte sie mit Ausdauer und Geschick. Es war seine große Stärke, kritische Punkte zu erkennen, sie aufzulisten und gewissenhaft einen nach dem anderen zu klären. Nebenbei wies er seinen noch unerfahrenen jungen Assistenten in die verschiedenen Arbeitsabläufe ein. Der junge Mann, er hieß Sakamoto, kam frisch von der Waseda-Universität, wo er Ingenieurwissenschaften studiert hatte. Er hatte ein längliches Gesicht, war grauenhaft wortkarg und lächelte nie, aber er war aufmerksam und lernte schnell. Auch seine Messungen waren exakt ausgefallen. Tsukuru fand den jungen Mann ganz brauchbar.
Sie besprachen etwa eine Stunde lang die Einzelheiten der Umbauten mit dem Vorsteher des großen Express-Bahnhofs. Er war ein leutseliger, dicker Mann in mittleren Jahren, der in der Mittagspause seinen Proviant in seinem Büro mit ihnen teilte. Beim anschließenden Tee gab er einige amüsante Anekdoten aus seinem Leben als Bahnhofsvorsteher zum Besten. Tsukuru hatte eine besondere Vorliebe dafür, vor Ort zu arbeiten und dann solche Geschichten zu hören. Irgendwann kam das Gespräch auf die Gegenstände, die Fahrgäste mitunter in Zügen und auf Bahnhöfen vergaßen. Es waren einige sehr bizarre Dinge unter diesen Fundsachen: die Asche eines Verstorbenen, eine Perücke, eine Beinprothese, das Manuskript eines vollständigen Romans (der Stationsvorsteher hatte ein wenig darin gelesen, es aber langweilig
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