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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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als würde man plötzlich nachts vom Deck eines Schiffes ins Meer geworfen werden.«
    Tsukuru musste an Haida denken. Wie er damals in seinem Traum – wenn es überhaupt ein Traum gewesen war – mit dem Mund sein Sperma aufgenommen hatte. Damals war Tsukuru lange sehr verstört gewesen. Plötzlich nachts allein ins Meer geworfen zu werden – ein wahrhaft treffender Vergleich.
    »In jedem Fall kann man da nur möglichst ehrlich zu sich selbst sein«, entschied Tsukuru sich zu sagen. »Nur so gewinnst du zumindest ein bisschen Freiheit. Tut mir leid, mehr kann ich dazu nicht sagen.«
    »Nagoya ist eine der größten Städte Japans, aber zugleich auch ziemlich provinziell. Das weißt du so gut wie ich. Die Einwohnerzahl ist hoch, die Wirtschaft floriert, die Stadt ist wohlhabend, aber sie bietet überraschend wenige Alternativen. Es ist nicht leicht für Menschen wie mich, hier ehrlich und frei zu leben … Ist das nicht unheimlich paradox? Im Laufe unseres Lebens entdecken wir immer mehr von unserem wahren Ich. Und je mehr wir davon entdecken, desto mehr geht uns verloren.«
    »Für dich läuft doch alles gut. Das ist meine ehrliche Meinung.« Tsukuru sagte es nicht nur so, er fand das wirklich.
    »Bist du nicht mehr wütend auf mich?«
    Tsukuru schüttelte kurz den Kopf. »Aber nein, ich bin nicht wütend auf dich. Ich war sowieso nie wütend auf irgendjemanden.«
    Er merkte plötzlich, dass sein Ton vertraulicher geworden war. Jetzt zum Schluss fühlte sich das wieder ganz natürlich an.
    Aka begleitete Tsukuru zum Fahrstuhl.
    »Vielleicht werden wir keine Gelegenheit mehr haben, uns zu sehen. Deshalb würde ich dir noch gern eine Episode aus meinem Arbeitsleben erzählen. In Ordnung?«, sagte Aka, während sie durch den Flur gingen.
    Tsukuru nickte.
    »Ich habe das immer am Anfang der Einführungsseminare für neue Angestellte gemacht. Zuerst schaue ich mich im ganzen Raum um, suche mir einen Probanden aus und bitte ihn, aufzustehen. ›Also‹, sage ich zu ihm, ›ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Zuerst die schlechte: Ihnen werden jetzt mit einer Zange entweder die Fingernägel oder die Zehennägel ausgerissen. Es tut mir leid, aber das steht bereits fest, es ist nichts daran zu ändern.‹ Ich nehme eine riesige Zange aus meiner Tasche und zeige sie allen. Ganz langsam und lange. Dann sage ich: ›Jetzt kommt die gute Nachricht. Sie können frei entscheiden, was Ihnen abgerissen wird – die Finger- oder die Zehennägel. Was soll es also sein? Sie haben zehn Sekunden Zeit. Wenn Sie sich nicht entscheiden können, kommt beides dran.‹ Dann zähle ich mit der Zange in der Hand zehn Sekunden ab. Die meisten entscheiden sich nach etwa acht Sekunden für die Zehennägel. ›Gut‹, sage ich, ›Sie bekommen also jetzt die Zehennägel ausgerissen. Doch zuvor müssen Sie mir noch eins sagen. Warum haben Sie sich für die Zehennägel und nicht für die Fingernägel entschieden?‹ ›Ich weiß nicht‹, sagen sie dann. ›Wahrscheinlich tut beides gleich weh. Aber da ich mich entscheiden musste, habe ich eben die Zehennägel gewählt.‹ Ich schüttle dem Betreffenden herzlich die Hand und sage: ›Welcome to real life‹ – willkommen im wahren Leben.«
    Tsukuru sah seinem alten Freund eine Zeit lang wortlos ins schmale Gesicht.
    »Jeder von uns hat seine eigene Freiheit«, sagte Aka. Er kniff ein Auge zu und lächelte. »Das ist der Sinn der Geschichte.«
    Lautlos öffnete sich die silberne Tür des Fahrstuhls, und die beiden trennten sich.

12
    Tsukuru fuhr noch am selben Tag nach Tokio zurück und kam gegen sieben Uhr abends dort an. Er packte seine Tasche aus, warf die getragene Kleidung in die Waschmaschine und wusch sich unter der Dusche den Schweiß ab. Dann rief er Sara auf ihrem Handy an und hinterließ auf ihrer Mailbox die Nachricht, dass er gerade aus Nagoya zurückgekehrt sei und sie ihn doch bitte anrufen möge, wenn es ihr passe.
    Er blieb bis nach elf Uhr auf und wartete, aber es kam kein Anruf. Als sie sich am nächsten Tag, es war ein Dienstag, in der Mittagspause meldete, war Tsukuru gerade in der Kantine beim Essen.
    »Wie war es denn? Hast du in Nagoya etwas erreicht?«, fragte sie.
    Er stand auf und suchte sich einen ruhigen Platz im Gang. In wenigen Worten erzählte er, dass er am Sonntag bei Ao im Autohaus und am Montag in Akas Büro gewesen war und mit beiden hatte sprechen können.
    »Es war eine gute Idee, die beiden zu besuchen. Allmählich wird mir so einiges

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