Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
ist dieses berühmte Stück aus den Kinderszenen von Schumann. ›Träumerei‹. Ich weiß noch, dass sie das öfter gespielt hat. Aber das Stück von Liszt kenne ich nicht. Was ist damit?«
»Nichts Besonderes. Es ist mir nur eingefallen.« Tsukuru schaute auf die Uhr. »Jetzt habe ich dich lange genug aufgehalten. Ich werde mich allmählich verabschieden. Es hat gutgetan, diese Dinge mit dir zu besprechen.«
Aka blickte Tsukuru direkt ins Gesicht, ohne seine Haltung im Sessel zu ändern. Sein Blick war ausdruckslos wie der eines Menschen, der eine neue, ungravierte Steinplatte betrachtet. »Hast du es eilig?«, fragte er.
»Nein.«
»Können wir noch ein bisschen reden?«
»Klar. Zeit habe ich im Überfluss.«
Aka schien einen Moment das Gewicht seiner Worte abzuwägen. »Du magst mich nicht mehr, oder?«, sagte er dann.
Tsukuru war einen Augenblick lang sprachlos. Erstens hatte er die Frage überhaupt nicht erwartet, und zweitens fand er, dass es ihm nicht zukam, über Aka, so wie er heute vor ihm saß, zu urteilen.
Tsukuru überlegte, bevor er antwortete. »Das kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich empfinde ich dir gegenüber anders als in unserer Teenagerzeit. Aber das ist …«
Aka hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Du brauchst dich gar nicht so vorsichtig auszudrücken. Du musst dich auch nicht anstrengen, mich zu mögen. Heutzutage bin ich niemandem mehr sympathisch. Das ist ganz natürlich. Ich mag mich ja selbst nicht mal besonders. Aber früher hatte auch ich ein paar wunderbare Freunde. Und du warst einer davon. Doch in irgendeinem Abschnitt meines Lebens habe ich sie verloren. Ebenso wie Shiro an irgendeinem Punkt ihr Strahlen verloren hat … Aber wir können nicht mehr zurück. Geöffnete Waren sind vom Umtausch ausgeschlossen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzumachen.«
Er ließ die Hand wieder sinken. Seine Finger trommelten einen unregelmäßigen Rhythmus auf seinem Knie. Als würde er eine Botschaft morsen.
»Mein Vater war lange Professor. Deshalb habe ich mir wahrscheinlich etwas Lehrerhaftes angewöhnt. Er hat auch zu Hause immer diesen belehrenden Ton angeschlagen, von oben nach unten. In meiner Kindheit habe ich das immer sehr ungern über mich ergehen lassen. Aber irgendwann stellte ich plötzlich fest, dass ich selbst genauso spreche.«
Er trommelte weiter auf seinem Knie. »Ich musste die ganze Zeit daran denken, was wir dir Schreckliches angetan haben. Wirklich. Wir hatten weder das Recht noch die Position, das zu tun. Und ich fand immer, dass wir uns irgendwann richtig bei dir entschuldigen sollten. Aber das haben wir nie zustande gebracht.«
»Das ist doch jetzt vorbei«, sagte Tsukuru. »Es lässt sich nicht mehr ändern.«
Aka überlegte kurz. »Tsukuru, ich hätte eine Bitte an dich.«
»Welche denn?«
»Ich möchte, dass du dir meine Geschichte anhörst. Sie ist eine Art Bekenntnis. Ich habe bis jetzt noch nie jemandem davon erzählt. Vielleicht willst du so etwas nicht hören, aber ich würde dir gern meine verborgene Wunde offenbaren. Du sollst wissen, was ich mit mir herumtrage. Natürlich glaube ich nicht, dass ich damit die Verletzung ausgleichen kann, die wir dir zugefügt haben. Es ist allein mein Problem. Wirst du mir aus alter Freundschaft zuhören?«
Tsukuru nickte, ohne zu wissen, wohin all das führen sollte.
»Wie gesagt ist mir erst an der Universität klar geworden, dass die Welt der Wissenschaft nichts für mich war. Und erst bei der Bank ist mir aufgefallen, dass ich mich nicht zum Angestellten eigne. Es ist beschämend, aber sicher habe ich es versäumt, mich selbst ernsthaft in Augenschein zu nehmen. Doch das war noch nicht alles, denn erst als ich verheiratet war, begriff ich, dass ich auch für die Ehe nicht tauge. Körperliche Beziehungen zu einer Frau zu haben, fällt mir nicht ganz leicht. Du verstehst sicher, was ich damit sagen will.«
Tsukuru schwieg.
»Deutlicher ausgedrückt, ich habe kein sexuelles Verlangen nach Frauen. Nicht, dass es gar nicht geht, aber ich ziehe Männer eben vor.«
Tiefe Stille senkte sich über den Raum. Nicht der geringste Laut war zu hören. Es war ohnehin ein ruhiges Zimmer.
»Das ist ja gar nicht so selten«, sagte Tsukuru, um die Stille zu füllen.
»Da hast du völlig recht. Aber an einem Punkt seines Lebens mit diesem Umstand konfrontiert zu werden, ist für den Betroffenen ziemlich hart. Sehr hart sogar. Da genügen keine Allgemeinplätze. Wie soll ich es beschreiben? Es ist,
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