Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
ihn mit einer Frage.
»Shiro hat also den anderen erzählt, du hättest ihr irgendeine Droge gegeben und sie vergewaltigt, als sie bei dir in Tokio übernachtete?«
»Ja, so wurde es mir gesagt.«
»Und sie hat das alles sehr realistisch beschrieben. Obwohl sie schüchtern war und sexuelle Themen immer gemieden hat.«
»So hat Ao es gesagt.«
»Und sie sagte, du hättest zwei Gesichter.«
»Ja, ich würde hinter einer schönen Fassade eine dunkle Seite verbergen, die sie sich gar nicht vorstellen könnten.«
Sara überlegte eine Weile mit ernster Miene.
»Fällt dir dazu etwas ein? Hat es zwischen euch vielleicht einmal einen Moment besonderer intimer Nähe gegeben?«
Tsukuru schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht. Mir war immer bewusst, dass so etwas nicht passieren durfte.«
»Es war dir immer bewusst?«
»Das heißt, ich habe mich immer bemüht, sie nicht als Mitglied des anderen Geschlechts wahrzunehmen. Deshalb habe ich jede Gelegenheit vermieden, mit ihr allein zu sein.«
Sara sah ihn eine Weile nachdenklich an. »Haben die anderen in der Gruppe das ebenfalls beachtet? Also, sich gegenseitig nicht als Mitglied des anderen Geschlechts zu betrachten?«
»Natürlich konnte ich nicht in die anderen hineinsehen. Aber wir hatten eine Art stillschweigende Übereinkunft, Romanzen in unserer Gruppe zu vermeiden. Das war eindeutig.«
»Aber findest du das nicht etwas gezwungen? Wenn Jungen und Mädchen in dem Alter vertraut miteinander umgehen und ständig zusammen sind, ist es doch ganz natürlich, dass sie sexuelles Interesse aneinander entwickeln.«
»Ich habe mir damals auch immer eine Freundin gewünscht, mit der ich allein sein konnte. Für Sex interessierte ich mich natürlich auch. Wie alle. Eigentlich wollte ich mir sogar eine Freundin suchen. Aber unsere Fünfergruppe war für mich das Wichtigste, und ich hatte nie Lust, etwas getrennt von ihnen zu unternehmen.«
»Wegen der Harmonie, die zwischen euch herrschte?«
Tsukuru nickte. »Wenn ich mit ihnen zusammen war, hatte ich das Gefühl, unentbehrlicher Teil eines Ganzen zu sein. Nirgendwo sonst fühlte ich mich so.«
»Deshalb musstet ihr euer sexuelles Interesse verdrängen. Um die vollkommene Harmonie zwischen euch zu erhalten. Um den vollkommenen Kreis nicht zu zerstören«, sagte Sara.
»Im Nachhinein betrachtet hatte das bestimmt etwas Unnatürliches. Aber damals erschien es uns als das Natürlichste der Welt. Wir waren noch so jung, und alles war neu. Wir konnten unsere Situation unmöglich objektiv überblicken.«
»Das heißt, ihr wart gewissermaßen in der Vollkommenheit eures Kreises eingeschlossen. Meinst du nicht?«
Tsukuru dachte darüber nach. »In gewissem Sinne war es sicherlich so. Aber wir waren gern darin eingeschlossen. Ich bereue das bis heute nicht.«
»Das ist alles sehr interessant«, sagte Sara.
Akas Besuch bei Shiro in Hamamatsu ein halbes Jahr vor ihrem Tod erregte Saras besondere Aufmerksamkeit.
»Der Fall liegt ein bisschen anders, aber die Geschichte erinnert mich an eine Klassenkameradin aus der Oberschule. Sie war schön, elegant und aus reichem Haus. Sie hatte im Ausland gelebt, sprach Englisch und Französisch und gehörte zu den Besten in der Klasse. Alles, was sie tat, wurde beachtet. Sie war umschwärmt, und sämtliche jüngeren Mädchen himmelten sie regelrecht an. An einer privaten Mädchenschule wie unserer war sie eine Sensation.«
Tsukuru nickte.
»Später ging sie auf die Herz-Jesu-Universität und studierte dann auch zwei Jahre in Frankreich. Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr bin ich ihr zufällig begegnet, und es verschlug mir fast die Sprache. Sie war – wie soll ich sagen – völlig verblasst. Es war, als wäre sie lange starker Sonne ausgesetzt gewesen und ihre Farben wären verblichen. Dabei hatte sie sich äußerlich kaum verändert. Sie war noch immer schön und elegant … Sie wirkte nur so viel farbloser als früher. Sodass man unwillkürlich eine Fernbedienung zur Hand nehmen wollte, um den Kontrast schärfer einzustellen. Es war eine seltsame Erfahrung, dass ein Mensch innerhalb weniger Jahre so sichtbar verblassen kann.«
Sara hatte ihren Hauptgang beendet und wartete, dass man ihr die Dessertkarte brachte.
»Wir waren nie eng befreundet gewesen, aber da wir gemeinsame Bekannte hatten, begegneten wir uns auch danach noch hin und wieder. Jedes Mal wenn ich sie sah, war sie wieder ein wenig blasser geworden. Und ab einem gewissen Punkt fand sie auch niemand mehr besonders
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