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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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unbegrenzt auf der Welt ausbreitet«, erklärte Sakamoto. »Einige der sogenannten seltenen Krankheiten werden durch ein dominantes Gen vererbt, und dennoch breiten diese Erkrankungen sich nicht allgemein aus. Glücklicherweise bleiben sie in den meisten Fällen auf eine bestimmte Zahl begrenzt und damit eben selten. Denn die sogenannte dominante Vererbung ist letztlich nicht mehr als ein Faktor bei der Verteilung von Erbgut. Eine erhebliche Rolle spielen außerdem das Überleben des Tauglichsten und die natürliche Auslese. Es ist nur eine Vermutung, aber ich stelle es mir so vor, dass sechs Finger für einen Menschen einfach zu viel sind. Ich glaube, mit fünf Fingern lässt sich eine Tätigkeit am effizientesten ausführen. Mehr sind einfach nicht nötig. Deshalb werden Menschen mit sechs Fingern wohl in der absoluten Minderzahl bleiben, auch wenn diese Eigenschaft dominant vererbt wird. Demnach muss die natürliche Auslese wohl einen stärkeren Einfluss haben als eine Dominanz im Erbgut.«
    Nachdem Sakamoto diese Erklärung in einem Atemzug vorgetragen hatte, verfiel er wieder in Schweigen.
    »Ich verstehe«, sagte Tsukuru. »Etwas Ähnliches hat wohl auch dazu geführt, dass man fast auf der ganzen Welt vom Duodezimalsystem zum Dezimalsystem übergegangen ist.«
    »Jetzt, wo Sie es erwähnen … Das wird auch auf die sechs beziehungsweise fünf Finger zurückgehen«, sagte Sakamoto.
    »Wie kommt es, dass Sie über diese Dinge so gut Bescheid wissen?«, fragte Tsukuru.
    »Ich hatte an der Uni Vorlesungen über Vererbungslehre belegt. Aus persönlichem Interesse.« Sakamoto wurde über und über rot.
    Der Bahnhofsvorsteher lächelte aufmunternd. »Da sieht man’s wieder. Vorlesungen über Vererbungslehre können durchaus nützlich sein, auch wenn man später bei der Eisenbahn arbeitet. Lernen ist nie verkehrt.«
    »Aber sechs Finger könnten doch zum Beispiel für einen Pianisten ein wahrer Schatz sein«, sagte Tsukuru.
    »Das glaube ich nicht«, antwortete der Stationsvorsteher. »Der zusätzliche Finger würde ihn doch stören. Ich meine, Herr Sakamoto hat recht: Sechs Finger effektiv zu bewegen ist wahrscheinlich zu mühsam für einen Menschen. Fünf Finger sind genau richtig.«
    »Ob sechs Finger überhaupt irgendeinen Vorteil haben?«, fragte Tsukuru.
    »Bei meinen Nachforschungen habe ich gelesen, dass man im Mittelalter in Europa Menschen mit sechs Fingern als Zauberer oder Hexen verbrannt hat. Zur Zeit der Kreuzzüge wurden sie in manchen Ländern vollständig ausgelöscht. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber in Borneo gelten Kinder, die mit sechs Fingern geboren werden, angeblich automatisch als Schamanen. Das könnte man vielleicht als Vorteil bezeichnen.«
    »Schamanen?«, sagte Tsukuru.
    »Aber das ist in Borneo.«
    Die Mittagspause ging zu Ende und damit auch ihre Unterhaltung. Tsukuru bedankte sich beim Bahnhofsvorsteher für das Essen, stand auf und ging mit Sakamoto wieder an die Arbeit.
    Während sie den Plänen noch ein paar notwendige Anmerkungen hinzufügten, fiel Tsukuru plötzlich die Geschichte von Haidas Vater ein. Die Geschichte von dem Jazzpianisten, der sich in dem Gasthof an den heißen Quellen in den Bergen von Oita eingemietet hatte. Konnte es nicht sein, dass der Beutel, den der Mann aufs Klavier gelegt hatte, seine in Formalin eingelegten sechsten Finger enthielt? Vielleicht hatte er sie aus irgendeinem Grund erst als Erwachsener amputieren lassen, führte sie nun in einer Flasche mit sich und versäumte es nie, sie auf das Klavier zu stellen, bevor er spielte. Als Talisman.
    Natürlich war das nicht mehr als eine fantastische Vorstellung, die jeder Grundlage entbehrte. Außerdem hatte die Geschichte sich vor über vierzig Jahren zugetragen – wenn sie überhaupt stimmte. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr bildete er sich ein, dass dies die passende Erklärung sein könnte, die in Haidas Erzählung gefehlt hatte. Während Tsukuru bis zum Abend mit dem Bleistift in der Hand an seinem Zeichentisch saß, kreisten seine Gedanken unaufhörlich um dieses Thema.
    Am folgenden Tag traf Tsukuru sich mit Sara in Hiroo. Sie gingen in ein kleines Bistro, das in einem Wohngebiet lag (Sara kannte viele verschwiegene kleine Lokale in Tokio), und Tsukuru erzählte ihr beim Essen von der Begegnung mit seinen beiden alten Freunden in Nagoya. Obwohl er versuchte, die Geschichte zu straffen, wurde sie ziemlich lang, doch Sara hörte ihm interessiert zu. Hin und wieder unterbrach sie

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