Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
gefunden), ein sorgfältig in einer Schachtel verpacktes blutverschmiertes Hemd, eine lebendige Giftschlange, ein Päckchen mit etwa vierzig Farbfotos von weiblichen Geschlechtsteilen, ein großer, prachtvoller Holzfisch …
»Mitunter weiß man gar nicht, wohin mit den Sachen«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Bei einem Kollegen von mir hat mal jemand eine Reisetasche mit einem toten Embryo abgegeben. Zum Glück ist mir so etwas noch nie passiert. Aber an dem Bahnhof, an dem ich früher beschäftigt war, wurden einmal zwei in Formalin eingelegte Finger abgegeben.«
»Das ist ja richtig unheimlich«, sagte Tsukuru.
»Ja, das können Sie laut sagen. Es waren zwei kleine Finger. Sie schwebten in dieser Flüssigkeit in einer Art Mayonnaiseglas, das in einem hübschen Stoffbeutel steckte. Sie sahen aus wie Finger eines Kindes, die man an der Wurzel abgetrennt hat. Natürlich habe ich die Polizei gerufen. Es hätte ja etwas mit einem Mord zu tun haben können, nicht wahr? Es ist auch sofort ein Kommissar gekommen und hat sie mitgenommen.«
Der Bahnhofsvorsteher nahm einen Schluck Tee.
»Ungefähr eine Woche später kam derselbe Kommissar, um den Kollegen, der die Finger in der Toilette gefunden hatte, noch einmal genau zu den näheren Umständen zu befragen. Ich war dabei. Dem Kommissar zufolge stammten die Finger in dem Glas nicht von einem Kind. Die Analyse im Labor habe ergeben, dass sie einem Erwachsenen gehörten. Dass sie so klein waren, lag daran, dass es sechste Finger waren. Es kommt wohl ab und zu vor, dass jemand mit sechs Fingern geboren wird. Die meisten Eltern betrachten dies als Deformierung und lassen dem Kind diese Finger noch im Säuglingsalter abnehmen. Aber es gibt wohl auch Menschen, bei denen das nicht der Fall war. Diese lassen sich die sechsten Finger erst als Erwachsene operativ entfernen, und manche bewahren sie in Formalin auf. Der Besitzer der Finger sei vermutlich ein Mann zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig, so der Kommissar, aber wie viel Zeit seit der Amputation vergangen sei, könne man nicht sagen. Ob die Finger im Waschraum des Bahnhofs vergessen oder absichtlich dort zurückgelassen worden seien, lasse sich nicht nachprüfen. Ein Verbrechen könne man aber nahezu ausschließen. Am Ende blieben die Finger in der Obhut der Polizei. Es meldete sich auch kein Fahrgast, der die Finger vergessen hatte. Wahrscheinlich lagern sie noch immer in der Asservatenkammer der Polizei.«
»Was für eine seltsame Geschichte«, sagte Tsukuru. »Warum würde jemand, der seine sechsten Finger so lange behalten hat, sie plötzlich entfernen lassen?«
»Tja, das bleibt ein Rätsel. Der Vorfall hatte mein Interesse geweckt, und ich habe damals alles Mögliche über dieses Phänomen herausgesucht. Man nennt es Polydaktylie, und es gibt eine ganze Menge berühmter Leute, die sechs Finger hatten. Es ist unklar, inwieweit das stimmt, aber es gibt wohl Hinweise, dass der Feldherr Toyotomi Hideyoshi zwei Daumen hatte. Und es gibt noch viele andere Fälle. Berühmte Pianisten, Schriftsteller, Maler und Baseballspieler. Auch fiktive Charaktere wie Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer haben sechs Finger. Es ist absolut keine Seltenheit, das Gen vererbt sich sogar dominant. Bei einigen Völkern kommt es häufiger vor, bei anderen seltener. Weltweit wird von fünfhundert Menschen etwa einer mit sechs Fingern geboren. Allerdings wird, wie gesagt, der Finger bei den meisten auf Wunsch der Eltern bis zum ersten Lebensjahr entfernt, weil sich danach die Greiffähigkeit ausprägt. Daher bekommt man dieses Phänomen kaum zu Gesicht. Ich selbst hatte bis zu dieser Fundsache noch nie davon gehört.«
»Aber das ist doch sonderbar«, sagte Tsukuru. »Wenn Polydaktylie sich dominant vererbt, wieso haben dann nicht mehr Menschen sechs Finger?«
Der Bahnhofsvorsteher zuckte mit den Schultern. »So viel weiß ich auch nicht darüber.«
An dieser Stelle meldete sich Sakamoto, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, zu Wort. Er sprach schwerfällig, als müsste erst ein Felsbrocken vor dem Eingang zu einer Höhle beiseitegewälzt werden. »Dürfte ich, auch wenn ich noch neu bin, vielleicht eine Bemerkung dazu machen?«
»Selbstverständlich, nur heraus damit«, sagte Tsukuru erstaunt, denn Sakamoto war überhaupt nicht der Typ, der ungefragt eine Meinung äußerte.
»Viele Leute missverstehen das Wort ›dominant‹ wegen seiner landläufigen Bedeutung, aber dominante Vererbung bedeutet nicht, dass sich etwas
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