Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
dachten wir, es sei dir vielleicht zu schwer gefallen.«
Tsukuru schwieg einen Moment. »Hat Shiro, als sie ermordet wurde, wirklich in Hamamatsu gewohnt?«, fragte er dann.
»Ja, fast zwei Jahre lang, glaube ich. Sie hat allein gelebt und Kindern Klavierunterricht gegeben. Sie war bei einer Musikschule von Yamaha angestellt. Warum sie ausgerechnet nach Hamamatsu gezogen ist, weiß ich nicht. Sie hätte auch in Nagoya Arbeit finden können.«
»Wie ging es Shiro denn dort?«
Aka zündete sich erneut eine Zigarette an.
»Ungefähr ein halbes Jahr bevor sie getötet wurde, hatte ich beruflich etwas in Hamamatsu zu erledigen. Ich rief Shiro an und lud sie zum Essen ein. Damals waren wir vier schon auseinander und sahen uns kaum noch. Wir telefonierten nur hin und wieder. Jedenfalls hatte ich in Hamamatsu ein bisschen Zeit und wollte Shiro endlich einmal wiedersehen. Sie wirkte entspannter, als ich gedacht hatte. Es schien ihr gutzutun, dass sie woanders ein neues Leben angefangen hatte. Wir sprachen von alten Zeiten und aßen in einem bekannten Aal-Restaurant, tranken Bier und machten es uns gemütlich. Dennoch herrschte eine etwas seltsame Stimmung. Wie soll ich es beschreiben – eine gewisse Spannung war nicht zu leugnen. Das heißt, wir mussten ein gewisses Thema meiden …«
»Das gewisse Thema war ich, oder?«
Aka nickte ernst. »Ja, es schien sich etwas in ihr verhärtet zu haben. Die Sache war noch immer da, sie hatte sie nicht vergessen. Aber abgesehen davon konnte ich nichts Seltsames an ihr entdecken. Sie lachte ziemlich viel, und ich glaube, sie hatte Spaß an unserer Unterhaltung. Auch was sie sagte, war ganz normal. Ich fand, der Ortswechsel hatte ihr erstaunlich gut getan. Allerdings – es fällt mir ein wenig schwer, das zu sagen – war sie nicht mehr so hübsch wie früher.«
»Nicht mehr so hübsch«, wiederholte Tsukuru. Seine Stimme klang in seinen Ohren wie aus weiter Ferne.
»Nein, eigentlich meine ich etwas anderes«, sagte Aka und überlegte. »Wie soll ich es beschreiben? Natürlich waren ihre Gesichtszüge im Grunde dieselben, und nach normalen Maßstäben war sie auch damals noch eine schöne Frau. Jemand, der Shiro nicht als Teenager gekannt hat, hätte genau diesen Eindruck gehabt. Nur kannte ich sie ja von früher, als sie so bezaubernd war, dass es einem ins Herz schnitt. Und diese Shiro gab es damals schon nicht mehr.«
Bei der Erinnerung verzog Aka schmerzlich das Gesicht.
»Die junge Frau, die vor mir saß, hatte Schlimmes durchgemacht. Von ihrer früheren Wärme war nichts mehr zu spüren. Das Einzigartige an ihr war unwiderruflich verschwunden. Es berührte mein Herz nicht mehr.«
Aus dem Aschenbecher stieg der Rauch der Zigarette auf.
»Shiro war damals noch nicht mal dreißig. Ich brauche dir nicht zu sagen, dass sie nicht gealtert war. Sie war sehr schlicht gekleidet und kaum geschminkt. Ihr Haar hatte sie zusammengebunden. Aber all das spielte keine Rolle. Das war nur die ganz banale Oberfläche. Entscheidend war, dass Shiro ihr natürliches Strahlen, aus dem sie ihre Lebenskraft zog, verloren hatte. Sie war immer introvertiert gewesen, aber in ihr hatte es auch immer etwas gegeben, das sie unabhängig von ihrem eigenen Willen antrieb. Dieses Licht und diese Wärme drangen aus eigener Kraft durch alle Ritzen nach außen. Verstehst du, was ich meine? Doch als ich sie das letzte Mal sah, war das schon verschwunden. Als hätte sich jemand an sie herangeschlichen und den Stecker gezogen. Ihre äußerliche Schönheit und Frische hatten jetzt eine gegenteilige Wirkung. Es schmerzte, sie zu sehen. Es war keine Frage des Alters. Das Alter tut so etwas nicht. Als ich hörte, dass Shiro erwürgt worden war, war ich zutiefst erschüttert. Sie tat mir so von Herzen leid. Einen solchen Tod wünscht man niemandem, unter keinen Umständen. Zugleich konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass man ihr das Leben gleichsam schon vor ihrem Tod geraubt hatte.«
Aka griff nach der Zigarette im Aschenbecher, sog den Rauch tief ein und schloss die Augen.
»Sie hat in meinem Herzen eine tiefen Schnitt hinterlassen, der sich nie geschlossen hat«, sagte Aka.
Es herrschte Stille. Dichte, undurchdringliche Stille.
»Erinnerst du dich an das Klavierstück, das Shiro so oft gespielt hat?«, fragte Tsukuru. »Ein kurzes Stück, ›Le mal du pays‹ von Franz Liszt.«
Aka überlegte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Das Einzige, woran ich mich erinnere,
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