Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Zweifel die echte Sara aus Fleisch und Blut. Reflexartig erhob Tsukuru sich und stieß beinahe den Tisch um. Kaffee schwappte auf die Untertasse. Aber er setzte sich sofort wieder hin.
Denn neben Sara ging ein nicht mehr ganz junger Mann. Er war kräftig gebaut und von mittlerer Größe. Er trug ein dunkles Jackett, ein blaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit kleinen Punkten. Sein sorgfältig frisiertes Haar war graumeliert. Vermutlich war er Anfang oder Mitte fünfzig. Sein Kinn war ein wenig spitz, aber er hatte angenehme Züge. Insgesamt strahlte er die gelassene Selbstsicherheit gewisser Männer in diesem Alter aus. Die beiden gingen einträchtig Hand in Hand die Straße entlang. Tsukuru sah ihnen mit leicht geöffnetem Mund durch die Glasscheibe nach. Wie jemand, dem es mitten im Satz die Sprache verschlagen hat. Sie schlenderten direkt an ihm vorbei, aber Sara schaute nicht in seine Richtung. Sie war so in das Gespräch mit dem Mann vertieft, dass sie ihre Umgebung nicht wahrzunehmen schien. Der Mann sagte etwas, Sara antwortete und lachte, sodass man deutlich ihre Zähne sah.
Bald verschwanden die beiden im abendlichen Strom der Menge. Tsukuru starrte noch lange durch die Scheibe in die Richtung, in die die beiden verschwunden waren, wohl in der vagen Hoffnung, dass Sara zurückkommen würde. Vielleicht hatte sie ihn doch bemerkt und würde umkehren, um ihm die Situation zu erklären. Aber sie kam nicht. Nur Menschen mit fremden Gesichtern und Körpern strömten an ihm vorbei.
Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und nahm einen Schluck Eiswasser. Was blieb, war stumme Traurigkeit. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der linken Seite seiner Brust, wie von einem spitzen Messer. Einen solchen Schmerz hatte er schon lange nicht gespürt. Wahrscheinlich nicht, seit seine vier besten Freunde ihn im Sommer seines zweiten Studienjahrs verstoßen hatten. Er schloss die Augen und ließ sich in der Welt dieses Schmerzes treiben wie in Wasser. Besser, Schmerz zu empfinden, als gar nichts, versuchte er sich zu trösten. Ganz schlimm wäre es, wenn er nicht einmal mehr Schmerz empfinden könnte.
Alle Geräusche verbanden sich zu einem schrillen Pfeifen in seinem Ohr. Es war ein besonderer Laut, der nur in unendlich tiefer Stille zu vernehmen war. Er kam nicht von außen, sondern entstand tief in seinem Inneren. Jeder Mensch trägt solch einen eigentümlichen Laut in sich. Doch nur selten hat man Gelegenheit, ihn zu vernehmen.
Als er die Augen öffnete, war ihm, als hätte sich die Welt verändert. Die Plastiktische, die weiße, schlichte Kaffeetasse, das angebissene Sandwich, die alte selbstaufziehende TAG Heuer an seinem linken Handgelenk (ein Andenken an seinen Vater), die aufgeschlagene Abendzeitung, die Alleenbäume an der Straße, die bereits erleuchteten Schaufenster der Geschäfte gegenüber, alles wirkte ein wenig verschoben und verzerrt. Die Umrisse waren verschwommen und besaßen nicht die richtige Tiefenschärfe. Auch die Proportionen stimmten nicht. Er atmete mehrmals tief durch, und allmählich beruhigte er sich.
Der Schmerz, den er empfunden hatte, war keine Eifersucht. Tsukuru wusste, was Eifersucht war. Er hatte sie einmal sehr lebhaft im Traum erfahren. Er wusste, wie quälend und unstillbar dieses Gefühl war. Was er jetzt verspürte, hatte nichts mit den Leiden der Eifersucht zu tun. Was er empfand, war reine Traurigkeit. Eine Traurigkeit, als säße er ganz allein auf dem Grund einer dunklen Grube. Aber letztendlich war es nicht mehr als Traurigkeit. Nicht mehr als physischer Schmerz. Tsukuru war eher dankbar dafür.
Was ihn am meisten schmerzte, war nicht, dass Sara Hand in Hand mit einem anderen Mann die Straße entlangging. Oder dass sie vielleicht jetzt gerade mit ihm schlief. Natürlich tat es ihm weh, wenn er sich vorstellte, dass sie sich irgendwo auszog, um mit dem anderen Mann ins Bett zu gehen. Es kostete ihn große Mühe, diese Vorstellung aus seinem Kopf zu verbannen. Aber Sara war achtunddreißig Jahre alt, unabhängig, ledig und frei. Es war ihr Leben. Ebenso wie Tsukurus Leben sein Leben war. Sie hatte das Recht, zu tun, was sie wollte, mit wem und wo sie es wollte.
Nein, vor allem bestürzte es ihn, dass Sara so von Herzen glücklich ausgesehen hatte. Als sie mit dem Mann sprach, hatte sie über das ganze Gesicht gestrahlt. In Tsukurus Gesellschaft hatte sie nie so offen und unbeschwert gewirkt. Kein einziges Mal. Ihre Miene war stets kühl und beherrscht gewesen.
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