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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vor sich. Er dachte daran, dass er nicht mit ihr hatte schlafen können, und was sie gesagt hatte. »In dir steckt etwas fest, und das blockiert den natürlichen Fluss.«
    Könnte schon sein, dachte er.
    Die meisten waren sicherlich der Ansicht, Tsukuru Tazaki komme recht gut und ohne besondere Probleme durchs Leben. Er hatte eine renommierte Technische Hochschule absolviert, war bei der Eisenbahn angestellt und galt als Experte auf seinem Gebiet. In seiner Firma wurden seine Leistungen sehr geschätzt. Seine Vorgesetzten vertrauten ihm. Er war finanziell abgesichert. Sein Vater hatte ihm eine ganz ansehnliche Erbschaft hinterlassen. Er besaß eine schöne Zweizimmerwohnung in guter Lage, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Er hatte keine Schulden. Er trank nicht, er rauchte nicht und hatte keine teuren Hobbys. Also gab er eigentlich kaum Geld aus, ohne dabei in besonderer Weise sparen zu müssen oder ein asketisches Leben zu führen. Er wusste nur nicht, wofür er Geld ausgeben sollte. Er brauchte kein Auto und kam mit wenig Kleidung aus. Mitunter kaufte er sich ein paar Bücher oder CD s, aber das waren keine großen Summen. Er zog es vor, selbst zu kochen, statt essen zu gehen. Seine Bettwäsche wusch er ebenfalls selbst und bügelte sie sogar. Er war schweigsam, und Geselligkeit war nicht gerade seine Stärke. Andererseits schottete er sich auch nicht ab. Er verhielt sich ganz normal zu seiner Umgebung. Nicht dass er aus eigenem Antrieb ausging, um Frauen kennenzulernen, aber er war nie besonders gehemmt im Umgang mit ihnen gewesen. Er war ledig, sah nicht schlecht aus, hatte Manieren und kleidete sich gut. Also kamen sie von sich aus ganz natürlich auf ihn zu. Oder jemand aus seiner Firma stellte ihm eine ledige Bekannte vor (Sara hatte er auch auf diese Weise kennengelernt).
    Offenbar genoss er mit seinen sechsunddreißig Jahren ein gepflegtes Single-Leben. Er war gesund, nicht übergewichtig und noch nie krank gewesen. Ein Leben ohne Stolpersteine, dachten die Leute sicher. Seine Mutter und seine Schwestern waren ebenfalls dieser Ansicht. »Es ist zu angenehm für dich, allein zu leben. Deshalb hast du überhaupt keine Lust mehr zu heiraten«, sagten sie und hörten irgendwann auf, ihm Kandidatinnen vorzuschlagen. Seine Kollegen waren derselben Meinung.
    Tsukuru Tazaki hatte in seinem bisherigen Leben nie einen Mangel erfahren. Er wusste nicht, wie enttäuschend es sein kann, etwas, das man sich sehr wünscht, nicht zu bekommen. So hatte er sich, soweit er sich erinnerte, noch nie um etwas bemüht, was er wirklich wollte, und die Freude genossen, es zu bekommen. Die vier Freunde, die er in der zehnten Klasse kennengelernt hatte, waren das Wertvollste, was er je besessen hatte. Aber auch sie waren ihm eher wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß gefallen, als dass er sie aus eigenem Willen ausgewählt hatte. Und er hatte sie schon vor langer Zeit – und auch das nicht willentlich – verloren. Oder sie waren ihm genommen worden.
    Sara gehörte zu seinen wenigen Sehnsüchten. Er war noch nicht ganz fest überzeugt, fühlte sich aber stark zu der zwei Jahre älteren Frau hingezogen. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, wurden seine Gefühle für sie stärker. Er wäre zu einigen Opfern bereit gewesen, um sie zu gewinnen. Es kam selten vor, dass er so lebhaft empfand. Trotzdem – warum nur? – verlief die Sache nicht planmäßig, als es ernst wurde. Irgendetwas war an die Oberfläche gelangt und blockierte ihn. »Nimm dir Zeit. Ich warte«, hatte Sara gesagt. Aber so einfach war das nicht. Die Menschen waren ständig in Bewegung und änderten von Tag zu Tag ihren Standpunkt. Niemand wusste, was als Nächstes geschehen würde.
    Während Tsukuru über diese Dinge nachdachte, schwamm er, ohne außer Atem zu geraten, in dem fünfundzwanzig Meter langen Becken hin und her. Dabei hob er den Kopf auf einer Seite leicht aus dem Wasser, holte kurz Luft und atmete unter Wasser langsam wieder aus. Mechanisch schwamm er eine Bahn nach der anderen. Die Anzahl der Schläge, die er für eine Strecke brauchte, war immer genau die gleiche. Er konnte sich ganz diesem Rhythmus überlassen und brauchte einfach nur die Runden zu zählen.
    Irgendwann merkte Tsukuru, dass die Fußsohlen des Mannes, der in derselben Bahn vor ihm schwamm, ihm bekannt vorkamen. Sie hatten erstaunliche Ähnlichkeit mit Haidas. Tsukuru schnappte unwillkürlich nach Luft, und seine Atmung geriet aus dem Takt. Er bekam Wasser in die Nase, und es dauerte

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